Im Klotener Schulhaus Hinterwiden herrschte zuweilen ein rauer Umgang. Nun arbeitet das Team mit dem Programm Denk-Wege, um die sozialen Kompetenzen zu fördern – und ist begeistert von den praxisorientierten Lektionen.
Matthew und Nick streiten sich. Im Rollenspiel nimmt ein Junge dem anderen sein Spielzeug weg und hänselt ihn. «He, gib das zurück», ruft Nick, doch Matthew weigert sich. Der Bestohlene wird nun sichtbar wütend. Er runzelt seine Stirn und verzieht den Mund. Was kann Nick jetzt tun, um mit dieser Situation umzugehen?
Der Kindergartenjunge setzt sich nun auf ein Kissen, schliesst die Augen, legt eine Hand auf den Bauch und atmet bewusst ein und aus. Nach drei Atemzügen fragt Kindergartenlehrerin Eljmedina Bajrami: Ist die Wut schon kleiner geworden? «Ein bisschen», antwortet Nick.
«Es ist normal, dass ihr manchmal hässig seid», erklärt die Lehrerin. «Man kann nicht immer glücklich sein.» Bei ihr fühle sich das jeweils an, wie wenn sie einen roten Ball im Bauch hätte. Dann müsse sie dafür sorgen, dass dieser kleiner werde. Sie präsentiert nun Zeichnungen mit Handlungsmöglichkeiten, welche die Kinder in zwei verschiedene Kategorien einteilen: Nicht okay ist zum Beispiel, jemanden an den Haaren zu ziehen, die Zunge rauszustrecken, zu stossen oder Schimpfwörter auszuteilen. In der Rubrik okay dagegen landen Strategien, welche die Kinder bereits kennengelernt haben und immer wieder anwenden: Musik hören, Zeitungen zerreissen, einen kleinen Ball oder Knete drücken oder eben eine Atemübung ausführen. Die entsprechenden Utensilien stehen den Kindern auch auf ihrem Beruhigungssofa mit Blick ins Grüne zur Verfügung. Regt sich ein Kind auf, begleitet es die Lehrerin in den Raum, wo das Sofa steht. Je nach Gemütszustand können die Kinder von der roten in die orange und am Schluss in die grüne Zone rutschen.
Konkrete Anleitungen für den Unterricht
Die Kindergartenklasse im Klotener Schulhaus Hinterwiden arbeitet jede Woche eine Lektion mit dem Programm Denk-Wege, welches der Universität Zürich angegliedert ist. Damit sollen Gewalt und Mobbing an Schulen reduziert werden. Im Rahmen dieses Programms werden die Schülerinnen und Schüler vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse gezielt in sieben Bereichen der sozialen und emotionalen Kompetenzen gefördert: Gefühle und Verhalten, Selbstkontrolle, Problemlösen, Selbstwertgefühl, Regeln und Manieren sowie Lernen und Organisation. Als die Primarschule vor drei Jahren ins Programm einstieg, besuchte das ganze Team eine Schulung. «Ich habe noch selten von einer Weiterbildung so viel profitiert», sagt Kindergartenlehrerin Eljmedina Bajrami. Die sozusagen pfannenfertigen Lektionen mit Materialien und konkreten Handlungsanleitungen seien äusserst hilfreich.
Im Kindergarten ist es die Plüschschildkröte namens Schildi, die durch die Themenreihe begleitet. Jeden Morgen dürfen die Kinder ihren aktuellen Gemütszustand auf einer Art Papieruhr festhalten. Sie stellen die Zeiger auf eines der abgebildeten Schildkrötchen, deren Mimik und Körperhaltung signalisieren, ob sie glücklich, müde, wütend, ängstlich, verschlossen oder traurig sind. «Mit diesem Hilfsmittel lernen die Kinder, ihre Gefühle in Worte zu fassen sowie die Mimik des Gegenübers zu lesen», erklärt Bajramis Stellenpartnerin Krystle Gutierrez, die vor zehn Jahren das Studium an der PH Zürich abgeschlossen hat. In der Ausbildung sei die Prävention von Gewalt und Mobbing thematisiert worden, jedoch nicht auf derart konkrete Art.
In der Mittelstufe wird’s differenzierter
Auch in der vierten Primarklasse ist die erste Stunde an diesem Morgen Denk-Wege gewidmet. Kurz nach dem Ankommen sollen die Schülerinnen und Schüler in sich hineinhören und herausfinden, wie es ihnen gerade geht. Für diese Altersgruppe sind es nicht mehr Schildkrötenbilder, sondern Karten mit Gesichtern, die zur Verfügung stehen, um Gefühle auszudrücken. Zudem ist die Palette bereits grösser: Auch Gemütslagen wie einsam, verschlossen oder aufgeregt stehen jetzt zur Wahl. Zudem können die Kinder zwei Gefühle gleichzeitig nennen und werden angeregt, über den Grund für ihre Stimmung nachzudenken. «Ich bin glücklich, weil ich gestern mit Sara draussen war», sagt zum Beispiel Sheila. «Gleichzeitig bin ich nervös, weil heute der Fotograf da ist.»
Nun dürfen die Jungen und Mädchen ihre eingeübten Rollenspiele vorführen. Sara sitzt in der Pause alleine auf einer Bank, während zwei andere Mädchen sich demonstrativ von ihr abwenden. «Mich mag niemand», klagt Sara. In Zweierteams machen sich die Kinder nun Gedanken, was das Mädchen in dieser Situation tun könnte. «Sie könnte die anderen fragen, wieso sie weggegangen sind», schlägt Ada vor. Und Bahara ergänzt: «Sara könnte sich andere Kolleginnen suchen.» Die Vorschläge werden danach in drei Kategorien eingeteilt: Die Umgebung verändern, sein eigenes Denken und Handeln verändern oder versuchen, die Anspannung abzubauen – etwa mit Entspannungsübungen.
Komplimente für «Kind der Woche»
Die beiden Viertklasslehrerinnen sind begeistert von dem gut durchdachten Konzept. «Die Kinder steigen darauf ein und es funktioniert», sagt Linda Morf. Etwas schwierig sei jedoch, dass keine eigentliche Lektion dafür zur Verfügung steht. Die Lehrerinnen setzen deshalb jede Woche Zeit aus einem anderen Fach ein. Einen guten Ansatz findet Linda Morf auch das «Kind der Woche». Dieses darf zum Beispiel in der Turnstunde Spiele auswählen und die Kolleginnen und Kollegen schreiben ihm Komplimente auf ein Papier – etwa Dinge, die es gut kann oder die ihnen angenehm aufgefallen sind. So wird sein Selbstwertgefühl gestärkt und gleichzeitig bei den anderen Kindern die Aufmerksamkeit auf die positiven Eigenschaften von Klassenkameradinnen und -kameraden gelenkt.
«Als Berufseinsteigerin war ich oft überfordert mit Konflikten in der Klasse», erzählt Morfs Stellenpartnerin Lydia Graf, die vor vier Jahren das Studium an der PH Zürich abgeschlossen hat. Sie schätze deshalb diese Anleitungen zu einer besseren Selbstregulation. Natürlich reiche die eine Stunde pro Woche, in der das Thema behandelt wird, nicht aus für einen längerfristigen Effekt, ist sich Graf bewusst: «Wir müssen konstruktive Konfliktlösungen im Alltag immer wieder einfordern.» Kürzlich war zum Beispiel ein Mädchen in der Turnstunde frustriert, da es bei einem Spiel ausgeschieden war. Die Lehrerin nahm es dann zur Seite und erinnerte es an die gelernten Strategien. Auch ihr selber falle es schliesslich nicht immer leicht, diese umzusetzen, räumt Lydia Graf ein. «Kürzlich habe ich mich vor der Klasse entschuldigt, weil ich so wütend gewesen bin. Was man von den Kindern erwartet, muss man auch vorleben.»
Kulturwandel an ganzer Schule
Die Schule Hinterwiden ist auf Denk-Wege gestossen, nachdem die externe Schulevaluation auf Entwicklungspotenzial im sozialen Umgang hingewiesen hatte. «Einige Kinder hatten auf dem Pausenplatz Angst vor anderen», erzählt Schulleiter Daniel Böckli. In dem multikulturellen Umfeld seien bei Streitereien häufig hässliche Schimpfwörter gefallen. «Die meisten Kinder bringen wenig Sprache mit», stellt Böckli fest. Zudem würden viele im Schema der Schuldzuweisung verharren: Sätze wie «Der andere hat …», seien häufig zu hören. Nach den Erkenntnissen der Schulevaluation beschloss die Steuergruppe, die Probleme anzugehen. «Wir wollen einen Kulturwandel einleiten.»
Am Programm Denk-Wege gefällt dem Schulleiter, dass es bei jedem persönlich ansetzt: «Gefühle sind weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, was man aus den Gefühlen macht.» Früher hätten die Lehrpersonen regelmässig Detektiv und Richter spielen müssen. Dabei sei wertvolle Unterrichtszeit verloren gegangen. Heute können sie die Schülerinnen und Schüler an die Beruhigungsstrategien erinnern und ihnen die Konfliktlösung übergeben.
Indem die ganze Schule mitmacht, entstehe zudem eine Verbindlichkeit und Kraft, stellt Daniel Böckli fest. Demnächst will das Team auch Zonen auf dem Pausenplatz markieren, in denen sich Schülerinnen und Schüler mit schwierigen Emotionen zurückziehen können, um sich zu entspannen – analog dem Beruhigungssofa im Kindergarten mit roten, orangen und grünen Zonen. Geplant ist ausserdem ein Elternabend zum Thema. Wegen der Pandemie konnte dieser lange nicht stattfinden. Daniel Böckli hofft, dass die Strategien danach vermehrt auch zuhause angewandt werden.
Wirkung wissenschaftlich nachgewiesen
In der Schweiz sind es bereits über 100 Schulen in 13 Kantonen, die konsequent mit Denk-Wege arbeiten, sowie einzelne Lehrpersonen in anderen Schulen. Nach den zwei Einführungstagen besuchen und coachen die Projektverantwortlichen die einzelnen Lehrpersonen vor Ort. Es handle sich um ein in den USA entwickeltes Programm, erklärt Projektleiterin Rahel Jünger von der Universität Zürich. Die Wirksamkeit sei mittels Studien nachgewiesen worden. Allerdings habe man dabei erkannt, dass eine stetige Auseinandersetzung und Vertiefung nötig sei, damit sich die Fähigkeiten längerfristig halten, erklärt Jünger. Deshalb habe man das Programm so gestaltet, dass es vom Kindergarten bis in die sechste Klasse altersgerecht angewandt werden kann. «Im Idealfall setzen sich die Kinder über acht Jahre hinweg mit den entsprechenden Themen auseinander.»
Im Kindergarten sitzen die Kinder unterdessen an den Tischen und arbeiten an einem Blatt mit vier Kreisen. Den ersten malen sie mit roter Farbe aus. Er stellt den roten Ball dar, den man bei Zorn oder Ärger im Bauch spürt. In den weiteren Kreisen zeichnen sie Handlungsoptionen, mit denen der Ball dazu gebracht werden kann, kleiner zu werden. Auf Witolds Blatt zum Beispiel sind Tannenbäumchen zu erkennen. «Mir tut es gut, im Wald rennen zu gehen», erzählt der Junge. Hira dagegen hat ein Velo gezeichnet sowie ein rot-grünes Gebilde. «Das ist eine Erdbeere», erklärt das Mädchen. Ob sie der süsse Geschmack auf der Zunge beruhige, fragt die Lehrerin. Hira nickt.