«Normalerweise gehen wir unangemeldet zuhause vorbei»

Rolf Weilenmann ist Dienstchef der Jugendintervention der Kantonspolizei Zürich. Er bezeichnet die digitalen Medien als Multiplikatoren von Gewalt und wünscht sich, dass Schulen die Polizei in Konfliktsituationen öfter hinzuziehen, damit Gewaltspiralen früher gebrochen werden können.

«Es gibt keine Trennung zwischen Schulweg und Schule.» Rolf Weilenmann, Chef Jugendintervention der Kantonspolizei Zürich. Foto: Nelly Rodriguez

Sie haben seit 20 Jahren mit gewalttätigen Jugendlichen zu tun. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Die digitalen Medien haben viel verändert. Wenn es früher eine Schlägerei auf dem Pausenplatz gab, dann blieb das begrenzt auf die Schüler, die dabei waren und zuschauten. Heute geht die Gewalt in den digitalen Medien weiter, auch beim Mobbing. Das ist verheerend. Seit einigen Jahren haben wir im Kanton Zürich ein Problem mit Messern bei Jugendlichen. Das Problem wird durch klassische und soziale Medien noch verstärkt. Auf Tiktok und Instagram werden Messer gezeigt, Filme von gewalttätigen Handlungen mit Messern und es werden Erlebnisse mit diesen geteilt, auch von Opferseite. Da heisst es, man solle ein Messer in den Ausgang mitnehmen zum Selbstschutz. Das ist sehr gefährlich.

Häufig werden auch Rapvideos, in denen Gewalt verherrlicht wird, als Treiber für die wieder steigende Jugendgewalt genannt. Sind diese ein Problem?
Das ist ein Problem. Längst nicht alle Jugendlichen hören Rap, aber auf die Jugendlichen, die sich mit Rap befassen, können diese Gewaltdarstellungen einen Einfluss haben. Vor vier Jahren zeigte ein bekannter US-Rapper in einem Video, wie er einen Menschen mit einer über den Kopf gezogenen Kapuze von hinten erschiesst. Man sieht, wie das Blut nach vorne spritzt. Und dann erschiesst er mit einer Kalaschnikow einen Gospel-Chor. Nicht der Inhalt des Videos ist das Problem, sondern die vermittelten Bilder. Dieses offensichtliche Zeigen von Gewalt gab es zuvor nicht.

Aber das kennt man doch bereits aus Filmen.
Das stimmt, aber das wirkt anders. Auch dieses Rapvideo hat einen künstlerischen Anspruch und fällt deshalb nicht unter den Strafbestand Gewaltdarstellung. Aber begreift das der Jugendliche? Natürlich erkennen die Jugendlichen, dass dieses Töten Fake ist. Aber sie fragen sich, was der Unterschied ist zwischen diesem Erschiessen von Personen durch den Rapper und den Gewaltvideos auf ihrem Smartphone. Heute haben wir viel mit Jugendlichen zu tun, die Videos von vom IS gefilmten massiven Gräueltaten auf ihrem Handy haben.

In welchen Situationen treffen Sie auf solche Videos?
Vielfach geschieht das, wenn wir jemanden unter Verdacht haben oder das Handy aufgrund von Delikten sicherstellen, um Bild- oder Videomaterial auszuwerten. Da geht es auch darum, die Opfer zu schützen. Die Auswertung der Daten macht die digitale Forensik, aber anschauen müssen wir das Material selbst. Und wir finden eigentlich immer verbotene Pornografie und Gewaltdarstellungen, da gibt es einen Zusammenhang. Ob es einen direkten Zusammenhang gibt zu dem, was jemand gemacht hat, ist unklar. Ich bin überzeugt, dass verschiedene Probleme dazu führen, dass ein Jugendlicher Gewalt ausübt. Seien es Probleme in der Schule, Konflikte mit den Eltern oder dass sich ein Jugendlicher mit einer Gruppe umgibt, die nicht gut gesinnt ist. Heute haben wir viele Täter und Täterinnen aus Gruppierungen, die sich gegenseitig aufstacheln.

Wie erklären Sie sich diese Dynamiken?
Das hängt auch damit zusammen, dass diesen Jugendlichen Vorbilder fehlen. Ich will nicht sagen, dass es immer der Vater ist, der fehlt. Wir haben auch Mädchen und junge Frauen, die in diesen Gruppierungen unterwegs sind. Doch oft stammen diese Jugendlichen aus zerrütteten Verhältnissen. Bei Hausbesuchen habe ich schon erlebt, dass der Vater im Gefängnis ist und die alleinerziehende Mutter von mir erwartete, dass ich die Vaterrolle übernehme. Das geht natürlich nicht.

In welchen Fällen machen Sie solche Hausbesuche?
Wir machen viele Hausbesuche bei auffälligen Jugendlichen, bei denen wir das Gefühl haben, dass sie in eine Gewaltspirale geraten, auch auf Hinweise von Lehrpersonen hin. Je früher wir den Kontakt zu den Eltern suchen, desto besser. Normalerweise gehen wir am Abend unangemeldet zuhause vorbei, stellen uns vor und suchen das Gespräch mit den Eltern. Ideal ist, wenn diese Kinder ebenfalls anwesend sind. Dann versuchen wir den Jugendlichen näherzubringen, dass sie Unrecht getan und andere verletzt haben, und zeigen auf, was passiert, wenn sie so weitermachen. Im Grunde machen wir dasselbe wie Lehrpersonen oder die schulische Sozialarbeit, nur haben wir einen kleinen Ausweis, wo Polizei draufsteht. Das macht noch etwas mehr Eindruck.

Welche Rolle hat die Schule in solchen Fällen?
Lange Zeit hiess es, dass die Schule nicht zum Erziehen da ist, sondern zur Wissensbildung. Meine Meinung ist, dass eine gewisse Erziehung dazugehört, diese jungen Menschen verbringen ja einen wesentlichen Teil ihrer Zeit in der Schule. Die Eltern haben immer noch die Hauptverantwortung, doch die Schule nimmt eine entscheidende Rolle ein. Auch sie muss aufzeigen, was man darf und was nicht, und muss diesbezüglich konsequent sein. Es braucht eine Hausordnung, ein Regelwerk und einen guten Kontakt zu den Schülern.

Nehmen Lehrpersonen diese Verantwortung wahr?
Heute ist das immer mehr der Fall, doch wir hören von Seiten der Schule teilweise noch: «Das ist auf dem Schulweg passiert, das geht uns nichts an.» Diese Trennung zwischen Schulweg und Schule gibt es nicht. Die Konflikte, die auf dem Schulweg passieren, werden in die Schule hineingetragen. Zur Verantwortung der Schulen gehört auch, dass sie reagieren, bevor etwas passiert. Und dass sie bei schweren Gewaltfällen die Polizei rufen. Das geschieht nicht immer.

Weshalb nicht?
Weil Lehrpersonen nicht wollen, dass diese jugendlichen Täter durch das Einschalten der Polizei selbst in Schwierigkeiten geraten, nehmen sie sie ein Stück weit in Schutz und vergessen, dass die Täterin oder der Täter eine Stunde später neben dem Opfer sitzt. Bei schweren Fällen von Gewalt ist es wichtig, dass die Polizei eingeschaltet wird, damit die Jugendanwaltschaft auch Einblick in die Familie erhält. Die Lehrperson weiss in solchen Fällen nicht, was in den Familien passiert, ob dort häusliche Gewalt vorkommt. Das kann die Schule nicht abklären, dafür sind wir zuständig. Vielleicht müssen wir Jugendliche auch einmal einsperren, damit sie andere und sich selbst nicht gefährden. Aber wir haben kein Jugendstrafgesetz, das auf Sühne ausgerichtet ist. Wir wollen diesen Jugendlichen helfen und das vergessen Lehrpersonen manchmal.

In welchen Situationen arbeiten Sie im Bereich der Gewaltprävention mit Schulen zusammen?
In der 4. Primarschule und der 1. Oberstufe geben die Kinder- und Jugendinstruktoren der Kantonspolizei in der Schule eine Doppellektion zu digitalen Medien und Gewalt. Wir von der Jugendintervention selbst arbeiten mit Schulen zusammen, wenn etwas vorgefallen ist und die Schule auf diesen Vorfall reagieren möchte. Da kann man sich streiten, ob das Intervention, Prävention oder Ermittlung ist. Gewöhnlich sprechen wir erst einmal mit der Schulleitung, der schulischen Sozialarbeit und der Lehrperson und schauen, ob die Schule selbst eine Möglichkeit für Lösungen sieht. Wir können dann nebst einer Klassenintervention auch mit einzelnen Schülern oder Gruppen über den Vorfall sprechen, sofern sich kein Offizialdelikt ereignet hat und wir von Amtes wegen handeln müssen.

Sie haben diese Stelle 2002 aufgebaut und arbeiten bei Vorfällen auch mit Schulen zusammen. Sehen Sie, dass die Gewaltprävention wirkt?
Wenn sie von den Schulen weitergeführt wird, wenn die Schule dranbleibt, dann wirkt das. Wenn ich eine Anfrage von einer Schule erhalte, sage ich immer: «Wir sind aber keine Samichläuse. Wir kommen nicht einmal im Jahr, schwingen unsere Fitze und ihr macht dann nichts.» Es ist wichtig, dass Schulen selbst ein Programm haben und Gewaltprävention eine stetige Kultur ist. Doch die Schulen sind auf einem guten Weg. Auch unsere Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Durch den intensiven Kontakt haben wir heute ein gegenseitiges Verständnis dafür, wie wir arbeiten. Ich bin sehr froh, dass es heute Schulleitungen und die schulische Sozialarbeit gibt, die ein Vertrauensverhältnis zu den Schülerinnen und Schülern haben. Und die Schulen wissen, dass sie einen direkten Ansprechpartner bei der Polizei haben, den sie beiziehen können, ohne dass unter Umständen ein Strafverfahren eröffnet wird.

Ãœber Rolf Weilenmann

Rolf Weilenmann ist 1958 in Zürich geboren und in der Stadt aufgewachsen. Er absolvierte eine Lehre als Tiefbauzeichner, ging mit 22 Jahren zur Polizei. Nach dem Start im Bereitschaftsdienst und dann bei der Verkehrspolizei war er rund zehn Jahre auf der Polizeistation Bülach tätig und wechselte dann zur Kriminalpolizei der Kantonspolizei Zürich in die Abteilung Kapitalverbrechen, bei der es um Delikte gegen Leib und Leben geht.

2002 erhielt er die Chance, mit fünf Mitarbeitenden den Dienst Jugendintervention aufzubauen. Dieser war ursprünglich bei der Kriminalpolizei angesiedelt, seit 2014 gehört er zur Präventionsabteilung der Kantonspolizei Zürich. Heute leitet Weilenmann ein Team von 20 Polizistinnen und Polizisten. Sein Team ermittelt bei komplexen Fällen mit mehreren Tätern oder radikalisierten Jugendlichen und arbeitet bei Gewaltvorfällen oder bei Verdacht auf Gewaltdelikte mit Schulen zusammen.

In seiner Freizeit fährt Rolf Weilenmann Motorrad und reist gerne. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.