Bei Gewalt und Mobbing gilt heute an den Schulen eine Nulltoleranz. Dies erfordert im Schulalltag erhöhte Aufmerksamkeit für Anzeichen von Gewaltfällen. Und: Lehrpersonen sollten mit ihren Schülerinnen und Schülern durchgehend am Thema dranbleiben.
Die registrierte Jugendgewalt im Kanton Zürich zeigte gemäss Polizeilicher Kriminalstatistik lange Zeit eine positive Entwicklung auf: Ab 2009 ging die Gewalt stetig zurück. Zu dieser Entwicklung beigetragen haben auch ausgebaute Präventionsprogramme an den Schulen, die Stärkung des Themas in der Ausbildung von Lehrpersonen und Schulleitungen sowie die Etablierung der Schulsozialarbeit. Doch seit 2015 nehmen mittelschwere und schwere Gewaltdelikte im Kanton Zürich wieder zu. Häufig wird der verstärkte Leistungsdruck bei Kindern und Jugendlichen als Grund für den Anstieg von Gewalt genannt, oder die Selbstbezogenheit in unserer Gesellschaft: dass sich heute vieles um das Ich statt um das Wir dreht.
Roger Keller, Leiter des Forschungszentrums Inklusion und Gesundheit der PH Zürich, steht solchen Erklärungen skeptisch gegenüber. Er sagt: «Für Gewalt gibt es keine einfachen Erklärungen. Gewalt ist immer multifaktoriell.» Es tragen also stets verschiedene Faktoren dazu bei, ob jemand mit Gewalt auf eine bestimmte Situation reagiert – oder eben nicht. «Entscheidend ist, dass man im konkreten Fall genau hinschaut, statt zu generalisieren», sagt Keller. Und dass die Schutzfaktoren gegen Gewalt gefördert werden.
Zu den zentralen Schutzfaktoren gegen Gewalt an Schulen gehören ein positives Klassen- und Schulklima mit klaren, transparenten Verhaltensnormen und Regeln und die Stärkung von personalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Wer lernt, seine eigenen Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, sich in andere hineinzuversetzen und deren Bedürfnisse wahrzunehmen und zu akzeptieren, kann in schwierigen Situationen anders reagieren als mit Gewalt oder anderen problematischen Verhaltensweisen. Diese Kompetenzen können zum Beispiel mit Rollenspielen von Streitgesprächen oder mit der Einführung und Umsetzung von konstruktiven Konfliktlöseformen wie dem Brückenmodell oder Friedensseil eingeübt werden. Auch lassen sich durch kooperative Arbeits- und Lernformen oder beim gemeinsamen Spiel positive Handlungsalternativen zu Gewalt oder Aggression erfahren. Wichtig ist zudem, dass die Lehrperson sich ihrer Vorbildfunktion bewusst ist und jeden Tag Respekt und Empathie vorlebt.
«Wir versuchen, Gewaltprävention in unserem Forschungsteam nicht additiv zu denken, als etwas, das Lehrpersonen neben all den anderen Aufgaben auch noch in ihren Unterricht unterbringen müssen», sagt Keller. Vielmehr gehe es darum, im Schulalltag gesunde Verhaltensweisen zu fördern. So fasst Keller Gewalt, Sucht oder ein riskantes Sexualverhalten auch bewusst zusammen, als verschiedene Aspekte des gemeinsamen Ziels Gesundheit und Inklusion. «Im Grunde geht es bei der Präventionsarbeit immer um dasselbe», erklärt er. Gewalt gegen andere, Selbstverletzung oder ein problematisches Suchtverhalten sind gemäss Keller mögliche Reaktionen auf belastende Situationen. Die Präventionsarbeit zielt in allen Fällen darauf ab, dass Schülerinnen und Schüler Strategien erlernen, um auf herausfordernde Situationen positiv zu reagieren – und zwar über die Schule hinaus.
In der Ausbildung an der PH Zürich taucht Gewalt denn auch nicht bloss punktuell als Thema auf, vielmehr wird der Umgang mit Konflikten und die Förderung von sozioemotionalen Kompetenzen in verschiedenen Modulen, über sämtliche Fächer und Stufen hinweg thematisiert. Dieses Verständnis von Gewaltprävention als laufendem Bildungsauftrag widerspiegelt sich auch im Lehrplan 21, der überfachliche Kompetenzen stark gewichtet und aufzeigt, wie diese in den verschiedenen Fächern gestärkt werden können.
Wo beginnt Gewalt?
Trotzdem: Was Gewalt ist, ob eine Rangelei unter Gleichaltrigen in der Pause ein Problem ist, wann die Schule eingreifen muss und wofür sie zuständig ist – das sind Fragen, die an jeder Schule geklärt werden müssen. Denn die Ansichten darüber gehen auseinander. Das zeigte die von der Zürcher Bildungsdirektion in Auftrag gegebene und von der PH Zürich und der Fachhochschule Nordwestschweiz durchgeführte «Bedarfsabklärung Gewaltprävention und -intervention an Schulen». Für die Studie wurden Schulen im Kanton Zürich befragt, mit welchen Formen von Gewalt sie konfrontiert sind. Dabei zeigte sich nicht nur, welche Formen von Gewalt an Schulen häufig vorkommen, sondern ebenso welche davon die Lehrpersonen überhaupt als Problem wahrnehmen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet drei Formen von physischer und psychischer Gewalt: Erstens, Gewalt gegen die eigene Person, zu der Selbstverletzung, suizidales Verhalten sowie übermässiger Drogenkonsum gehören. Zweitens, kollektive Gewalt, womit die instrumentalisierte Gewaltanwendung durch Menschen, die sich als Mitglied einer Gruppe sehen, gemeint ist. Dazu werden Hooliganismus, Terrorismus oder Krieg gezählt. Und drittens, interpersonale Gewalt, wozu Diskriminierung, sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt und Mobbing gehören.
Gängige Definitionen von Gewalt beinhalten einen Schaden, der einer Person oder einem Objekt zugefügt worden ist, sowie eine Schädigungsabsicht hinter dem verletzenden Verhalten. Zudem liegt bei Gewalt gegen andere Personen in der Regel ein Machtungleichgewicht vor, sei es aufgrund unterschiedlicher körperlicher Voraussetzungen oder dass sich das Opfer in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet. Bei der Beurteilung von schweren Gewaltformen wie Körperverletzung oder sexueller Gewalt zeigten die befragten Lehrpersonen ein einheitliches Bild. Bei leichteren Auseinandersetzungen wie dem beschriebenen Gerangel oder Sachverletzungen wie der Kritzelei mit dem Kugelschreiber auf dem Tisch liessen sich drei Haltungen unterscheiden. Typ 1 ist hochsensibilisiert gegenüber normverletzendem Verhalten und interveniert bei jeder Normverletzung. Typ 2 sieht immer dann ein Problem, wenn sich Gewalt gegen Personen richtet. Typ 3 hat einen breiten Toleranzbereich und betrachtet es zum Beispiel nicht als Form von Gewalt, sondern als Frage des fehlenden Anstands, wenn ein Kind den Tisch zerkritzelt.
Keller, der Co-Leiter der Studie ist, macht klar: «Es gibt kein richtiges oder falsches Gewaltverständnis. Wichtig ist, dass man klare Verhaltensgrundsätze an der Schule etabliert und als Schulteam ein gemeinsames Verständnis von Gewalt entwickelt, damit man bei Fällen von Gewalt eine gemeinsame Sprache spricht.»
Abgrenzung gegen aussen
Die Bedarfserhebung zeigte, dass die Zürcher Schulen grundsätzlich gut aufgestellt sind und bei Fällen von Gewalt und Mobbing nur selten an ihre Belastungsgrenzen kommen. Die Schulleitungen und Lehrpersonen wissen, an wen sie sich bei schwierigen Fällen wenden können. Nur erreichen sie Fachpersonen nicht immer so leicht. So berichteten Lehrpersonen davon, dass es belastend sei, wenn man bei Gewaltvorfällen bei einer Hotline mehrmals anrufen muss, bis man durchkommt. «Es sind an den Schulen noch mehr niederschwellige Unterstützungsangebote für Lehrpersonen erforderlich», sagt Keller. Zentral sei dabei ein unkomplizierter Kontakt zur Schulsozialarbeit.
Was viele Lehrpersonen verunsichert, ist das Thema Cybermobbing, dass sich also die Gewalt in digitale Räume verschiebt. Das beobachtet auch Otto Bandli, der sich an der PH Zürich in der Aus- und Weiterbildung mit Mobbing befasst. «Studierende und Lehrpersonen haben häufig Angst, dass sie Cybermobbing nicht mitbekommen. Doch diese Angst ist unbegründet, denn Cybermobbing ist die Fortsetzung des bestehenden Mobbings in den sozialen Medien», sagt er. Auch gewöhnliches Mobbing spiele sich selten vor den Augen der Lehrperson ab. Doch diese kann Anzeichen dafür in ihrem Unterricht beobachten. Bei Cybermobbing ist dies nicht anders.
Verändert sich beispielsweise das Klassenklima, ändert ein Kind plötzlich sein Verhalten oder fällt seine Leistung ab, dann gilt es genauer hinzuschauen und nachzufragen. Bandli streicht dabei die Rolle des Klassenrats heraus, wo die Lehrperson mit der Klasse regelmässig den gemeinsamen Umgang reflektiert, auch denjenigen in digitalen Räumen. Weiss sie von einem Chat in der Klasse, so kann sie nachfragen, was dort läuft und erhält so mögliche Hinweise auf Mobbing. «Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler wissen, dass es kein Petzen gibt bei Mobbing, sondern dass es ein Zeichen von Zivilcourage ist, wenn sie Mobbingfälle oder Hassreden im Netz aufdecken», sagt Bandli. Und dass es eine Menschenrechtsverletzung darstellt, wenn jemand systematisch gedemütigt, geplagt, blossgestellt und ausgeschlossen wird.
Bandli beobachtet an Schulen manchmal, dass die Lehrpersonen zu viele Regeln von den Schülerinnen und Schülern aushandeln lassen und die Leitung des Klassenrats an diese delegieren. «Die Lehrperson sollte diese Aufgabe nicht aus der Hand geben», sagt er. Sie alleine trägt die Verantwortung dafür, dass in ihrer Klasse ein wertschätzender, respektvoller Umgang herrscht, und sie muss daher Verhaltensstandards setzen, die nicht verhandelbar sind. Etwa, dass in der Klasse niemand gehänselt oder ausgeschlossen wird. Eine solche Kultur, in der Mobbingversuche nicht geduldet werden und ins Leere laufen, ist allerdings nur möglich, wenn ein positives Wir-Gefühl vorhanden ist. Denn Mobbing ist der Versuch, über den Ausschluss anderer Personen Zugehörigkeit zu schaffen. Wo sich alle zugehörig zu einer Gruppe fühlen, muss niemand ausgeschlossen werden. «Ein solches Wir-Gefühl schafft man über die Abgrenzung der eigenen Gruppe gegen aussen», sagt Bandli. Beispiele für eine solche positive Abgrenzung der eigenen Gruppe sind etwa ein Lied, das nur die eigene Klasse singt, ein Fussball, mit dem nur sie spielt, oder ein Ritual, das die Lehrperson nur mit dieser Klasse macht. Bei Schulübergängen, wo dieses Wir-Gefühl erst wieder neu geschaffen werden muss, braucht es gemäss Bandli ein besonderes Augenmerk für das Thema Zugehörigkeit. Hilfreich ist etwa, wenn Schülerinnen und Schüler die künftigen Lehrpersonen oder ihre Schule schon vor dem Übergang kennenlernen oder wenn sie ein Gotti oder einen Götti an der neuen Schule erhalten.
Grössere Sensibilisierung
Kommt es doch zu Fällen von Mobbing, sollten diese nicht nur mit den Betroffenen, sondern mit der ganzen Klasse diskutiert werden, wobei nie über Täter und Opfer gesprochen wird, sondern nur über das Mobbingverhalten. Entscheidend ist, dass die Eltern von betroffenen Kindern wissen, was sie tun können: ihrem Kind beistehen, geduldig zuhören und ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Verhaltensratschläge mögen gut gemeint sein, sind aber nicht hilfreich. Denn diese implizieren, dass das Opfer durch sein Verhalten ein Stück weit Schuld am Vorfall trägt. «Egal wie sich ein Kind verhalten hat, es trägt nie die Schuld am Mobbingvorfall. Diese liegt immer bei den Tätern», sagt Bandli. Und dazu gehören auch diejenigen, die «nur» zugeschaut haben. Nulltoleranz bei Gewalt und Mobbing bedeutet allerdings nicht, dass Lehrpersonen gewalttätige Schülerinnen und Schüler vorschnell sanktionieren sollten. Das sagt André Kunz, Professor für Sonderpädagogik an der PH Zürich. In Krisenfällen, wenn jemand andere oder sich selbst gefährdet, müsse die Lehrperson sofort reagieren, sagt Kunz. «Genauso wichtig ist es aber, dass Lehrerinnen und Lehrer sich ein möglichst umfassendes Bild der Gesamtsituation verschaffen, bevor sie Gewalttaten vorschnell sanktionieren.»
Denn die Lehrperson kann im Unterricht immer nur einen kleinen Ausschnitt der Gesamtsituation wahrnehmen. Mittels Video-Experimenten zeigen André Kunz und Roger Keller den Studierenden der PH Zürich in Vorlesungen und Seminaren, wie stark unsere Wahrnehmung durch Vorerfahrungen geprägt ist. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Auffälligkeits-Bias: So lenken wir unsere Aufmerksamkeit gewöhnlich auf das Auffällige und Laute und nehmen Dinge, die im Stillen ablaufen, weniger stark wahr. Der Bestätigungs-Bias dagegen beschreibt, dass wir das Verhalten von Personen, die schon früher negativ auffielen, stärker wahrnehmen, weil damit ein bestehendes Bild bestätigt wird. «Diese Verzerrungen in der Wahrnehmung haben nichts mit der Persönlichkeit der Lehrperson zu tun, alle Menschen neigen zur Bestätigung der eigenen Annahmen und Erwartungen», sagt Kunz. Die Studierenden lernten in der Ausbildung verschiedene Sichtweisen kennen, mit denen sie solche Wahrnehmungsfehler gezielt umgehen und sich bei Konflikten ein objektiveres, umfassenderes Bild verschaffen können. Zudem rät Kunz den Studierenden, Beobachtungen bei Vorfällen ähnlich einer Filmnotiz zu notieren, das heisst, mit kurzen Informationen zur Handlung, zur Situation und dem Setting und getrennt davon zu den eigenen Hypothesen und Interpretationsansätzen. Statt auf das Gefühl, dass ein Kind «immer» stört oder dreinschlägt, kann die Lehrperson auf die tatsächlichen Vorfälle zurückgreifen, was auch für die Vorbereitung von Gesprächen mit Eltern oder weiteren Fachpersonen hilft.
Als weiteren bedeutsamen Aspekt bei der Analyse von Konflikten nennt Kunz die Reflexion des eigenen Verhaltens. Um zu klären, welche Rolle das eigene Verhalten spielt, können Lehrpersonen bei Teamkolleginnen und -kollegen nachfragen, ob ein Kind bei ihnen ebenso auffällt und ob es sich gleich verhält wie in den eigenen Lektionen. Doch was kommt nach der Beobachtung, wenn sich die Lehrperson ein genaues Bild der Situation gemacht hat? «Ich plädiere dafür, den Fokus auf entwicklungsfördernde statt disziplinarische Massnahmen zu legen», sagt Kunz. Neben konkreten Handlungsmöglichkeiten, etwa im Bereich der Mediation, geht es darum, gemeinsam mit der Schülerin oder dem Schüler nach Wegen zu suchen, um künftig anders als mit Gewalt auf Herausforderungen zu reagieren. Dafür ist es hilfreich, nach Situationen innerhalb oder ausserhalb der Schule zu suchen, in denen Gewalt kein notwendiges Verhalten war, und danach zu fragen, was in dieser Situation anders war: an der Herausforderung, am eigenen Stresslevel, den Ressourcen oder den Peers. Vielleicht hat ein Kind in einem Mannschaftsspiel wie Eishockey oder Fussball gelernt, sich abzuwenden oder auf fünf zu zählen, wenn es vom Gegner provoziert wird. Das Wissen, dass man sich in einer brenzligen Situation schon einmal beruhigen konnte, kann helfen, in einer anderen Situation erneut ruhig zu bleiben.