Das Einfache, das schwer zu machen ist

Petra Moser – Seitenblicke

Es gibt philosophische Formeln, in denen Erfahrungen angesprochen werden, die wir am eigenen Leibe gemacht haben und am liebsten für uns behalten möchten. Hierzu gehört Ernst Blochs Diktum vom «Dunkel des gelebten Augenblicks». Entsprechend sind wir im blinden Fleck unserer Selbst- und Weltwahrnehmung ganz nah bei uns, zumindest für Momente, Minuten und, wenn wir Glück haben, für länger – mit geliebten Menschen, vor grossen Kunstwerken oder inmitten der unfassbaren Reize der Natur. Diese ebenso intensiven wie intimen Momente möchten wir noch in der Erinnerung nicht preisgeben; teilen wir sie mit, teilen wir sie also, teilen sie sich, verlieren sie ihren Glanz als etwas Einzigartiges. Dabei versagt uns bisweilen die Sprache und im «Dunkel des gelebten Augenblicks» wird es unerwartet ungemütlich.

Die, deren alltägliches Geschäft der Umgang mit Sprache ist, können damit nicht gut leben. Kurt Tucholsky hat das mit Blick auf die Natur mitgeteilt. «Ich werde ins Grab sinken, ohne zu wissen, was die Birkenblätter tun. Ich weiss es, aber ich kann es nicht sagen. (…) Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst. (…) Steht bei Goethe ‹Blattgeriesel›? Ich mag nicht aufstehen, es ist so weit bis zu diesen Bänden, vier Meter und hundert Jahre. (…) Was tun die Birkenblätter? Während ich dies schreibe, stehe ich alle vier Zeilen auf und sehe nach, was sie tun. Sie tun es. Ich werde dahingehen und es nicht gesagt haben.»

Nimmt man diese Erfahrung Tucholskys so ernst, wie sie es verdient, wird deutlich, dass unmittelbares Wahrnehmen auf Dauer für ein «gutes Leben» nicht ausreicht. Das ist auf aufgeklärte Erfahrungen angewiesen, im vollen Sinne des Wortes. Erfahrungen als komplexe Einheiten werden erst im Wege ihrer Reflexion und ihrer Versprachlichung zu jenen Instrumenten unserer Selbststeuerung, die wir für unsere unbekannte Zukunft brauchen.

So schützenswert uns also das «Dunkel des gelebten Augenblicks» erscheint, so sehr wir uns da einnisten mögen, wir können nicht exklusiv auf Dauer in ihm verweilen. Denn jeder gelebte Augenblick ist der Auftakt für das, was kommt. Um noch einmal Ernst Bloch zu zitieren: «Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.» So heisst es auf der ersten Seite der «Spuren». In knapper Form ist hier ein Dreischritt beschrieben: Mit der einfachen Feststellung unserer Einzelexistenz fängt es an: «Ich bin.» Es folgt die Behauptung unseres Nichthabens unserer selbst durch uns; damit sind wir schon bei uns als Subjekt und Objekt unserer selbst, also unserem Selbstverhältnis angelangt: «Aber ich habe mich nicht.» Im dritten Satz gelangen wir zum Plural als Ergebnis des Widerspruchs von Satz eins und zwei und zur Notwendigkeit der Arbeit an uns selbst unser Leben lang: «Darum werden wir erst.»

Diese Schritte sind auf die Sprache angewiesen. Zugleich ist damit in einer knappen Formel das benannt, was im pädagogischen Diskurs seit langem «Bildung» heisst, ein bis zu unserem Ende unabschliessbarer Prozess. Das im Alltag der pädagogischen Praxis im Gedächtnis zu behalten und danach zu handeln gehört zum «Einfachen, das schwer zu machen ist» – so diesmal Brecht.

Petra Moser ist Dozentin an der PH Zürich.