Die Berufswahl auf der Sekundarstufe ist heute kein Entscheid fürs Leben mehr. Das nimmt Druck aus dem Berufswahlprozess und sorgt für mehr Spielraum. Zudem professionalisieren Schulen mit einem eigenen Berufswahlkonzept und Berufswahl-Coaches die Begleitung der Jugendlichen im Berufswahlprozess.
Wenn Martin Grab, Dozent für Berufliche Orientierung an der PH Zürich, von seinem Berufswahlprozess in der eigenen Schulzeit erzählt, klingt das nach einem Worst-Case-Beispiel. Grab besuchte mit seiner Klasse in der zweiten Sekundarschule die Berufsberatung am Zürcher Helvetiaplatz. Dort absolvierte er einen Intelligenztest und führte ein Gespräch mit einer Berufsberaterin. Und damit hatte es sich. Doch Grab sagt: «Wir gehörten damals wohl zu den privilegierten Klassen, weil unser Klassenlehrer die Berufswahl überhaupt mit uns thematisierte.»
Grabs Erfahrung stammt aus dem Jahr 1976. Und sie ist bezeichnend für einen Umbruch in der Geschichte der Berufsorientierung im Kanton Zürich. 1977 wurde in der Stadt Zürich das erste Berufsinformationszentrum des Kantons eröffnet, im gleichen Jahr erschienen die ersten Lehrmittel für die schulische Berufsfindung, die auf dem Kooperationsmodell des damaligen Berufsberaters Erwin Egloff basierten. Mit dem noch heute aktuellen Modell, das die Schritte von der Ich-Bildung und Selbsterfahrung über die Berufserkundung bis hin zum Berufsentscheid und der Lehrstellensuche beschreibt, wurde zum ersten Mal ein systematisches Vorgehen für den Berufsfindungsprozess von Jugendlichen in der Schule aufgezeigt. Denn obwohl Berufsberatungsstellen in der Schweiz seit den 1920er Jahren existierten, war die Berufswahlorientierung zu dieser Zeit weitgehend Sache der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern. «Und dies, obwohl die Lehrpersonen schon damals daran gemessen wurden, wie viele Schülerinnen und Schüler aus ihrer Klasse eine gute Lehrstelle erhielten», sagt Grab.
Heute ist die Berufswahl nach wie vor Aufgabe der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern, doch seit 1991 ist die Berufswahlorientierung, also die Hinführung zum Berufswahlentscheid, als Aufgabe der Schule im Lehrplan verankert. Inzwischen ist eine langfristige, systematische berufliche Orientierung nicht mehr wegzudenken aus den Schulen. Dass mit dem Lehrplan 21 in der zweiten Sekundarklasse eine Wochenlektion Berufliche Orientierung und eine weitere Lektion als Wahlfach in der dritten Klasse eingeführt wurde, bezeichnet Grab dennoch als revolutionär. Er sagt: «Der Lehrplan 21 gibt der beruflichen Orientierung noch einmal einen neuen Stellenwert.»
Gleichzeitig weist Grab darauf hin, dass eine Wochenlektion oft nicht ausreichend ist für eine gute berufliche Orientierung und dass diese zu den Aufgaben zählt, für die Lehrpersonen häufig ihre Freizeit investieren. Wenn Eltern ihren Kindern beispielsweise aufgrund fehlender Deutschkenntnisse bei der Lehrstellensuche nicht helfen können, springen Lehrpersonen häufig ein und sichten und korrigieren Bewerbungen auch neben der dafür vorgesehenen Arbeitszeit. «Es ist wichtig, dass die Schule Kapazitäten für solche Aufgaben schafft», sagt Grab. Diese könnten auch von Freiwilligen übernommen werden. Ein Beispiel dafür ist das Mentoring-Projekt Ithaka des Kantons Zürich, in dem erfahrene Berufspersonen Jugendliche ehrenamtlich bei der Lehrstellensuche unterstützen. Doch damit die Koordination mit den zahlreichen Beteiligten im Berufswahlprozess gelingt, brauchen Lehrpersonen klare Rahmenbedingungen.
Gute Schulen halten diese in einem Berufsorientierungskonzept fest, das auch das Timing der einzelnen Schritte vorgibt und damit die Koordination mit den Fächern Deutsch und Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (WAH) erleichtert, den zwei Fächern mit Bezug zur beruflichen Orientierung im Lehrplan. «Ein genau ausgearbeitetes, verbindliches Konzept entlastet die Lehrpersonen, sodass sie den Berufswahlprozess in der eigenen Klasse in sicheren Bahnen begleiten können», sagt Grab.
Ein Berufswahl-Coach an jeder Schule
Gerade weil der Berufswahlprozess so stark von ausserschulischen Akteuren abhängig ist, gibt es nicht das eine richtige Konzept für die berufliche Orientierung. «Auch hier muss jede Schule ihren eigenen Weg gehen», sagt Grab. So braucht eine Schule auf dem Land mit zahlreichen Berührungspunkten zum lokalen Gewerbe ein anderes Konzept für die berufliche Orientierung als eine städtische Schule. Und in einem Schulkreis mit hoher Akademikerquote ist wiederum ein anderer Zugang gefragt als in einem Kreis mit hohem Migrationsgrad, in dem viele Eltern ihre Kinder aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse nicht optimal unterstützen können.
Idealerweise hat jede Schule neben einem detaillierten Konzept für die berufliche Orientierung eine Lehrperson, welche für die Umsetzung und Koordination dieses Konzepts zuständig ist. Zurzeit wird in einem Projekt der Zürcher Bildungsdirektion zur Verbesserung des Übergangs von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II auch darüber diskutiert, ob in jeder Schuleinheit eine Lehrperson die berufliche Orientierung koordinieren soll. Mit dem CAS Berufswahl-Coach bietet die PH Zürich in Zusammenarbeit mit der PH Thurgau eine Weiterbildung für diese Spezialfunktion an. Als Berufswahl-Coach liefert diese Lehrperson nicht nur inhaltliche Impulse und steht Kolleginnen und Kollegen beratend zur Seite, sie knüpft ausserdem Kontakte zur Wirtschaft und organisiert Projekte und Veranstaltungen schulumfassend.
So gibt es Schulen, an denen Eltern mit einer Führungsfunktion Vorstellungsgespräche mit den Schülerinnen und Schülern simulieren. Oder es findet während einer Woche kein Unterricht statt, damit alle Schülerinnen und Schüler sicher eine Schnupperlehre absolvieren, und gewisse Gemeinden bieten sogenannte Gewerbetage an, an denen Schülerinnen und Schüler an einem Tag gleich mehrere Kurzschnuppereinheiten in lokalen Betrieben absolvieren.
Mit solchen gemeinsamen Gefässen könnten Schulen ihren Schülerinnen und Schülern vielfältigere Einblicke in die Berufswelt ermöglichen, als wenn allein die Klassenlehrperson für die berufliche Orientierung zuständig ist, sagt Grab. Zudem haben die Lehrerinnen und Lehrer mehr Kapazitäten für die enge Begleitung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht, wenn sie verschiedene dafür geeignete Aufgaben delegieren können. Grab weist aber auch auf die Gefahr hin, dass zu viel in solche Spezialformate gepackt wird und die berufliche Orientierung damit ausgelagert wird oder diese auf Kosten der wöchentlichen beruflichen Orientierung gehen. «Wichtig ist, dass die Lehrperson stets die Federführung im Berufswahlprozess behält», so Grab. Weil dieser bei allen Schülerinnen und Schülern unterschiedlich verläuft und zudem von Umbrüchen geprägt ist, ist eine kontinuierliche, enge Begleitung der Jugendlichen durch die Klassenlehrperson zentral.
Frühe Auseinandersetzung
Im Grunde startet dieser lange Prozess nicht erst in der zweiten Sekundarschulklasse. Vielmehr beginnt die Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen und Fähigkeiten sowie das Erkunden der Arbeitswelt – die ersten zwei Schritte im Berufswahlprozess – in der Schule schon viel früher. So etwa, wenn Schülerinnen und Schüler ihren Traumberuf zeichnen, einen Steckbrief von sich verfassen oder am Zukunftstag teilnehmen. «Diese Schritte sind wertvoll für die spätere Berufswahl», sagt Thomas Bucher, Dozent für Berufswahlorientierung an der PH Zürich. Er streicht auch die Bedeutung des Fachs Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (WAH) heraus. Gemäss Lehrplan setzen sich die Schülerinnen und Schüler in diesem bereits in der ersten Sekundarklasse mit der Bedeutung einer Berufsausbildung auseinander und machen sich Gedanken über die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung von Arbeit. So lernen sie etwa die verschiedenen Formen von Arbeit wie Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeitjobsharing oder Arbeit auf Abruf zu unterscheiden. Diese frühen Schritte der beruflichen Orientierung seien noch nicht an allen Schulen gleich gut etabliert, sagt Bucher. Auch hier könne ein schulinternes Berufswahlkonzept diese neue Arbeitsteilung zwischen den Fächern unterstützen.
Nebst der Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit und den eigenen Interessen ist in einer frühen Phase ein möglichst breiter Einblick in Berufe und Berufsfelder wichtig. «Mit einer solchen Horizonterweiterung erhöhen sich die Wahlfreiheit der Jugendlichen und damit die Chancen für eine passende Lehrstelle», so Bucher. Gemäss einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben Jugendliche in der Schweiz zwar breitere Berufsvorstellungen als Jugendliche in anderen Ländern. Trotzdem gilt auch hierzulande, dass man Berufe wählt, die man kennt oder zu kennen glaubt. Und die typisch für das eigene Geschlecht sind. So machen Jugendliche gemäss Bucher in ihrer Berufswahl lieber Abstriche bei den eigenen Interessen als beim Prestige oder der Geschlechtertypik, als dass sie einen geschlechtsuntypischen Beruf wählen würden. «Zudem geben Eltern ihren Kindern bewusst oder unbewusst zu erkennen, welche Ausbildungswege und Berufe aus ihrer Sicht überhaupt in Frage kommen.»
Dieser Beeinflussung kann die Lehrperson im Unterricht mit einfachen Aufgaben entgegenwirken, etwa indem sie ihre Schülerinnen und Schüler beauftragt, der Klasse Berufe vorzustellen, die sie noch nicht kennen oder die nicht typisch für ihr Geschlecht sind. Wichtig ist zudem, dass nicht nur die Jugendlichen, sondern ebenso ihre Eltern über die Anschlussmöglichkeiten im dualen Bildungssystem informiert werden. «So können sie der Berufswahl ihrer Kinder mit einer grösseren Offenheit begegnen», sagt Bucher. Inzwischen sei jedoch nicht nur die Botschaft, dass für jeden Abschluss ein Anschluss bestehe, in der Breite angekommen. Ausserdem seien sich die Jugendlichen heute bewusst, dass sie sich beruflich ständig weiterentwickeln müssen und ihre erste Berufswahl deshalb kein Entscheid auf Lebzeiten mehr ist. Thomas Bucher: «Das nimmt unwahrscheinlich viel Druck aus dem ganzen Prozess.» Entgegen kommt den Jugendlichen zudem die entspannte Lage auf dem Lehrstellenmarkt, die trotz der Pandemie anhält.
Lernen für die Lehre
Wenn es um die schulische Berufsorientierung geht, wird eine Herausforderung immer wieder genannt: dass viele Lehrpersonen den Berufswahlprozess, den sie anleiten, nie durchlaufen haben und sich in der Berufswelt zudem nicht auskennen. Gemäss Bucher ist das kein Hindernis, um den Prozess gut zu begleiten, insbesondere weil sich dieser von einer Generation zur nächsten auch stark verändert hat. «Von wesentlicher Bedeutung ist, dass angehende Lehrpersonen im Studium praktische Einblicke in die Berufswelt erhalten», sagt Bucher. In ihrer Ausbildung an der PH Zürich machen Studierende der Sekundarstufe selbst eine Berufserkundung und lernen mindestens einen Ausbildungsbetrieb und eine Berufsfachschule vor Ort kennen.
Zudem lernen sie im Modul «Berufliche Orientierung» von Personalverantwortlichen aus verschiedenen Betrieben, wie die Selektion von Lernenden in ihren Unternehmen organisiert ist. «Dabei staunen unsere Studierenden jeweils, wie stark diese Vorgänge heute Assessments von erwachsenen Berufstätigen gleichen», sagt Bucher.
Gerade grössere Betriebe haben die Selektionsverfahren für Lernende stark standardisiert und professionalisiert. So werden zunehmend Resultate von kostenpflichtigen standardisierten Tests wie dem Basis- oder Multi-Check bei der Bewerbung für eine Lehrstelle verlangt. Diese Tests erheben im Gegensatz zum Zeugnis nicht nur bereits erworbene Kompetenzen, sondern versuchen ausserdem das Potenzial der Jugendlichen zu erfassen. Auch bei der Schnupperlehre, dem wichtigsten Mittel zur Beurteilung von Lernenden, lässt sich eine Professionalisierung beobachten: Grössere Betriebe lassen Jugendliche seltener eine ganze Woche schnuppern, sondern begleiten sie zunehmend kürzer und dafür intensiver, um Fähigkeiten wie Durchhaltevermögen, Präzision oder Freundlichkeit gezielt beurteilen zu können.
Zudem sind in vielen Berufen die Anforderungen an die Lernenden gestiegen. «Durch die Digitalisierung ist in vielen Berufen nebst den bestehenden Kompetenzen erweitertes kognitives Potenzial gefragt», erklärt Bucher. Als Beispiel nennt er eine Schreinerei, in der Lernende auch computergesteuerte Maschinen programmieren.
Die Jugendlichen kämen mit diesen steigenden Anforderungen grundsätzlich gut klar, sagt Bucher. Dass Branchen mit hohen Anforderungen an ihre Lernenden Lehrverträge schon sehr früh abschliessen, bezeichnet er jedoch als aus Betriebssicht nachvollziehbar, für Jugendliche aber schwierige Entwicklung. Im November 2021 haben Verbundpartner der Berufsbildung, darunter Arbeitgebervertretungen, ein Commitment unterzeichnet, in dem sie festhalten, dass Lehrstellen frühestens ein Jahr vor Lehrbeginn ausgeschrieben werden dürfen. Damit wird eine ähnliche Fairplay-Vereinbarung aus den 90er Jahren, die im Laufe der Jahre zunehmend verwässert wurde, wieder neu aufgefrischt.
Zusammenarbeit verstärken
Die frühen Lehrvertragsabschlüsse sind nicht nur problematisch, weil Jugendliche ihren Berufswahlentscheid dadurch sehr früh fällen müssen. Sie verstärken zusätzlich eine Schwierigkeit, mit der Lehrpersonen auf der dritten Sekundarstufe kämpfen: dass die Leistung mancher Schülerinnen und Schüler nach dem Unterzeichnen ihres Lehrvertrages deutlich abnimmt.
Diesem Problem begegnen manche Lehrbetriebe proaktiv, indem sie ihren künftigen Lernenden klar kommunizieren, welche Kompetenzen sie von ihnen beim Antritt der Lehrstelle erwarten. Ob und wie die Zusammenarbeit zwischen den künftigen Lehrbetrieben und der Schule diesbezüglich verstärkt werden könnte, ist ebenfalls Traktandum im laufenden Projekt der Bildungsdirektion. Martin Grab, der als Vertreter der PH Zürich in diese Diskussion involviert ist, spricht von einem Dreiparteienvertrag. «Hier könnte der Ausbildner oder die Ausbildnerin gemeinsam mit der Klassenlehrperson und dem Schüler oder der Schülerin festlegen, welche Kompetenzen er oder sie sich bis zum Ende der dritten Sekundarschule aneignen soll», erklärt Grab. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass eine Schülerin, die Elektronikerin werden möchte, ihre Mathematikkompetenzen gezielt auf ein bestimmtes Niveau hin ergänzt oder dass ein Schüler, der einen Lehrvertrag als Florist unterzeichnet hat, eine Projektarbeit mit getrockneten Blumen durchführt und dabei schon auf das Arsenal des künftigen Lehrbetriebs zugreifen darf. Gemäss Grab könnten solche Abmachungen den Übergang in die Berufslehre erleichtern, weil die Jugendlichen gezielt an für sie wichtigen Kompetenzen arbeiten würden. Und im besten Fall bleiben die Jugendlichen dadurch auch motiviert für die letzte Zeit in der Volksschule.