
Der sechswöchige Lockdown im Frühling 2020 wirbelte das Verhältnis von Schule und Elternhaus kräftig durcheinander. Schule und Bildung fanden zuhause statt. Eine Studie der PH Zürich zeigt, wie unterschiedlich die Familien mit dieser Herausforderung umgingen.
Während der ersten Welle der Corona-Pandemie waren die Schulen in der Schweiz bis zu sechs Wochen geschlossen, der zumeist digitale Unterricht fand zwangsweise zuhause, mitten im familiären Umfeld, statt. In vielen Fällen waren die erwerbstätigen Eltern gleichzeitig im Homeoffice. Eine aktuelle Studie der PH Zürich zeigt, wie diese Situation den familiären Alltag einschneidend veränderte. Familien waren gefordert, sich den Umständen entsprechend zu organisieren. Dabei stellte sich nicht nur die Frage, wer wann welchen Computer verwenden darf, sondern auch wer für den schulischen Erfolg der Kinder in dieser Zeit verantwortlich ist.
Ein Forschungsteam der PH Zürich befragte im Juli 2020, also kurz nach dem Lockdown, 19 Familien zu ihren Erfahrungen während dieser Zeit. Die Familien hatten unterschiedliche Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Situation – hinsichtlich sozioökonomischer Situation, Wohnverhältnissen, familiärer Praktiken und gesundheitlicher Risiken. Untersucht wurden die Handlungsweisen der Familien im Umgang mit dieser noch nie dagewesenen Situation sowie das Verhältnis zur Institution Schule und die Frage nach dem Zusammenhang des elterlichen Handelns mit ihrer sozialen Positionierung.
Die Krise als «gute Familie» meistern
In drei der acht genauer untersuchten Familien funktionierte der neue Alltag mehr oder weniger reibungslos. Die Kinder bewältigten die schulischen Aufgaben mehrheitlich allein oder organisierten sich selbstständig Hilfe. Eltern – in den drei Fällen die Mütter – waren nur am Rande als Beobachterinnen involviert. In fünf Familien zeigten die Kinder jedoch grosse Schwierigkeiten in der Bewältigung der Situation, auf die die Eltern unterschiedlich reagierten. Die einen Familien suchten aktiv und eigeninitiativ externe Unterstützung bei der Lehrperson – die Studie berichtet von täglichen Telefonaten –, während andere das Problem familienintern zu lösen versuchten, indem beispielsweise der Bruder oder Stiefvater in die Bresche sprangen. Dort, wo die Familien scheiterten, wurde die Verantwortung teilweise den Kindern selbst oder den Lehrpersonen zugeschrieben. Auffällig war, wie alle Eltern in den Gesprächen zum Ausdruck brachten, sich für den Bildungserfolg der Kinder verantwortlich zu fühlen und sie die Ausnahmesituation als gut funktionierende Familie zu bewältigen versuchten. Dabei wurde deutlich, wie wichtig Normen und Vorstellungen einer «guten Familie» für die Eltern waren. Auffällig war auch das grosse Mitteilungsbedürfnis der Kinder: «Wenn wir sie nach ihren Erfahrungen befragten, sprudelte es nur so aus ihnen heraus», erzählt Gisela Unterweger, Co-Leiterin des Forschungsprojekts.
Wer ist für den Bildungserfolg verantwortlich?
Die Autorinnen der Studie kommen zum Schluss, dass die durch den Fernunterricht bedingte Umverteilung der Bildungsverantwortung von allen beteiligten Eltern angenommen wurde. «Mit der räumlichen Verlagerung der Schulzimmer ins eigene Zuhause konnten sich weder die Eltern noch die Kinder einer solchen Verantwortungsaushandlung entziehen.» Und dies, obwohl sich die Lehrpersonen bei der Erteilung von Aufgaben direkt und explizit an die Kinder wandten.
Die Rollen waren aber keineswegs geklärt, sondern es entstand ein Gefüge, in dem die bildungsbezogenen Verantwortlichkeiten uneindeutig waren und von den Familien unterschiedlichen familienexternen oder -internen Personen zugeteilt wurden. Dass die Rollenteilung nicht klar war, belegen auch andere Studien, die während der coronabedingten Schulschliessungen gemacht wurden. Sowohl Eltern als auch Lehrpersonen fühlten sich für den Lernprozess der Kinder hauptverantwortlich. Die Schilderungen der Familien deuten darauf hin, dass die Handlungsoptionen in der Bewältigung des «Schulschliessungs-Schocks» mit dem eigenen Bildungshintergrund und sozialen Kontext zusammenhängen. Dort, wo die Eltern nicht helfen konnten oder keine externe Hilfe beigezogen werden konnte, belastete das Erledigen der schulischen Aufgaben nicht nur die Kinder, sondern das familiäre Gefüge insgesamt.
Fragiler Bildungsraum
Schulschliessungen während der Pandemie haben eine Tendenz verstärkt und akzentuiert, die bereits seit einigen Jahren implizit im Gange ist. Bildungsverantwortung werde nicht mehr allein als Sache der Schule betrachtet, sondern es finde ein «Aushandlungsprozess» zwischen Schule und Eltern statt, so die Forscherinnen. Eltern würden diese Entwicklung grundsätzlich mittragen, jedoch seien ihre Voraussetzungen und Handlungsmöglichkeiten, um ihre Kinder bei den schulischen Erfolgen zu unterstützen, sehr unterschiedlich und ungleich. Auch bestehe die Gefahr, dass sich die Schule an einem Bild der «Normalfamilie» orientiere und Familien mit davon abweichenden Voraussetzungen benachteiligt würden. Pandemiebedingte Schulschliessungen hätten für Verunsicherung in Bezug auf die Bildungsverantwortung und Rollenverteilung gesorgt. Gleichzeitig hätten sie auch aufgezeigt, wie fragil und kontextabhängig der Bildungsraum zwischen Schule und Elternhaus sei.