Same same, but different

Karin Zopfi Bernasconi – Seitenblick

Theoretisch scheint die Sache so klar wie die bescheinigte Geburtenfolge im Familienbüchlein: Biologische Geschwisterkinder haben eine zur Hälfte identische Anlage und wachsen in ihrer Familie grundsätzlich in derselben Umwelt auf. Welche Rolle die Anlage, sprich das Genom, in der menschlichen Entwicklung spielt und wie es um den Einfluss der äusseren Faktoren steht, beschäftigt die Entwicklungspsychologie seit ihren Anfängen. Der gefundene Konsens wirkt als Maulkorb für ideologische Grabenkämpfe, denn die Wichtigkeit der Anlage, der Umwelt und deren Interaktion gilt mittlerweile als unbestritten und in etwa hälftig verteilt.

Dass die gleiche Umwelt von Kindern aus denselben Familien keineswegs identisch ist, wird in einigen psychologischen Konzepten angetönt, im Alltag häufig beobachtet, meist aber nur unter vorgehaltener Hand verbalisiert, denn die Maxime der Gleichbehandlung, die auf einer einheitlichen Elternliebe fusst, gilt es als Ideal zu erreichen. Aber all die zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich innerhalb der engsten Bande abspielen, sind kaum mit der gleichen Elle zu messen; sie in ihrer Eigendynamik zu fassen, zu durchschauen und zu verändern, ist komplex.

Die zeitlichen Ressourcen innerhalb einer Familie nehmen mit jedem weiteren Kind ab, im Gegenzug aber wächst das elterliche Zutrauen in die kindlichen Kräfte exponentiell. Was beim ersten Kind minutiös beobachtet, festgehalten und vielleicht auch mit sanfter Sorge erwartet wird, vermag ab dem zweiten Kind kaum mehr Seiten der Familienchronik zu füllen. Die Eltern kennen die Entwicklungsschritte und Herausforderungen vom ersten Kind her und haben in der Regel die Zuversicht, dass es so oder eben auch etwas anders gut kommt. Diese entspanntere Haltung überträgt sich auf jüngere Kinder, welche zwar weniger gut dokumentiert, dafür aber auch weniger kontrolliert heranwachsen. Ob dieser Unterschied in der Ära der Helikoptereltern einen Entwicklungsvorteil mit sich bringt, wird sich erst noch weisen.

Jüngere Kinder sind beim Heranwachsen in ihrer Familie stärker gefordert, freie Nischen und unbesetzte Rollen zu finden, die sie erstrahlen lassen oder schlichtweg elterliche Aufmerksamkeit erzeugen. Oftmals sind Kinder intuitiv geschickt, ihre persönlichen Feuerwerke perfekt getimt zu zünden, damit ihre Bedürfnisse gehört und gesehen werden. Die charakterlichen Eigenheiten eines Sprösslings lösen bei den Mitmenschen Reaktionen aus und stehen in Wechselwirkung zum elterlichen Bindungs- und Erziehungsverhalten. Es ist eine Illusion, dass bei mehreren Kindern derselbe Zugang erfolgsversprechend ist und dieselben erzieherischen Nuancen greifen. Jedes Kind erfreut und fordert Eltern in ihren alltäglichen Erziehungsaufgaben immer wieder aufs Neue und formt dadurch seine individuelle Umwelt mit.

Über zu eindimensionale Theorien zur Geschwisterposition hinauszugehen, lohnt sich, so beispielsweise für Lehrpersonen. Mehr über die Anteile der individuellen Umwelt eines Kindes zu erfahren, hilft, um es in seiner Ganzheit besser zu verstehen. Der Familienname steht dabei nur am Anfang.

Karin Zopfi Bernasconi ist Dozentin für Pädagogische Psychologie an der PH Zürich.