Grausamkeit zum Einschlafen

Lisa Thwaini ist Studentin auf der Sekundarstufe I und Tutorin im Schreibzentrum der PH Zürich.

Das vierjährige Kind meiner Freundin ist geradezu besessen von grossen Raubtieren, konkret: von der grausamen Geschicklichkeit, mit der sie ihre Beutetiere erlegen. Ich kann das nachempfinden, denn auch mich begeisterte in diesem Alter das Jagdgeschick von Wölfen und Löwen, die unglückliche Rentiere und Gnus rissen und deren tote Körper mit ihren kräftigen Gebissen zerteilten.

Ich identifizierte mich geradezu mit diesen mächtigen Räubern. Mit wölfischer Gier riss ich das Fleisch von den Pouletflügeli, zerkaute die Knochen, bis nur noch Knochenbrei auf dem Teller zurückblieb. Als Löwin jagte ich meine arme Zebraschwester durchs Wohnzimmer, bis das Spiel in Ernst umschlug und die Eltern einschritten. Inzwischen befriedige ich meine Lust auf Grausamkeiten vor allem mit dem Konsum von True-Crime-Podcasts. Lust empfand ich eigentlich nur am Anfang, mittlerweile habe ich mich längst an diese Geschichten gewöhnt. Die Grausamkeiten, die den Opfern dieser Verbrechen widerfuhren, sind für mich bloss noch Hintergrundrauschen und zuverlässige Einschlafhilfe.

Der Verlust an Thrill und Identifikation hat aber auch sein Gutes: Niemandem wäre geholfen, wenn ich mich heute mit Serienmörderinnen und -mördern so identifizieren würde wie früher mit Löwen und Wölfen. Ausserdem kann ich mit der Tochter meiner Freundin ausgezeichnet Tier werden – auch wenn ich jetzt das Zebra spielen muss.