Darf ein Staat Krankheit und Leiden für seine Bürgerinnen und Bürger abschaffen? Oder haben Menschen das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie gesund oder ungesund leben wollen?
Die Protagonistin Mia in Juli Zehs Roman Corpus Delicti lebt in einem Gesundheitsstaat, irgendwann im 21. Jahrhundert. Die Menschen grüssen sich mit «Santé». Permanent werden die Gesundheitsdaten aller Bewohnerinnen und Bewohner überwacht. Drogen, Alkohol und Zigaretten sind verboten, so wie alle anderen Dinge, die als schädlich erachtet werden. Ist das vorgeschriebene Fitnessprogramm nicht ordnungsgemäss erfüllt, wird der Staat aktiv. Dank digitaler Technologie werden sogar die menschlichen Ausscheidungen per Sensor am WC überprüft. Aber dann stirbt Mias Bruder. Ist dem scheinbar perfekten System ein schwerwiegender Fehler unterlaufen? Mia beginnt die Dinge zu hinterfragen.
Eine Dystopie, die mit der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Impfdebatte eine neue Aktualität gewinnt und zu kritischem Nachdenken über gesellschaftliche Werte einlädt. Es stellt sich die Frage, ob Corpus Delicti von Impfgegnern oder Massnahmengegnern als ideologische Rechtfertigung genutzt werden könnte.
Der Roman hat seit 2009 sehr viele Diskussionen und Fragen ausgelöst. In einigen Bundesländern in Deutschland steht er sogar auf dem Lehrplan, das heisst, sehr viele junge Menschen kommen mit den Inhalten in Berührung. 2020 ist Corpus Delicti in einer erweiterten Ausgabe als E-Book erschienen. Die Autorin setzt sich im Rahmen eines fiktiven Interviews mit Fragen von Schülerinnen und Schülern sowie anderen Lesenden auseinander. Dabei geht es nicht nur um politische und ethische Themen, die im Roman aufgeworfen werden, sondern auch um das Schreiben an sich und um die Frage nach der (Gleich-)Wertigkeit von Interpretationen und Lesarten.