Die tunesische Lehrerin Sarra Ben Ftima hat zusammen mit der PH Zürich ein Lehrmittel entwickelt, das Mathematik, Geschichte und Demokratiebildung verknüpft. Primarschülerinnen und Primarschüler sind begeistert. Ein Augenschein vor Ort im Süden von Tunesien.
Menzel Bouzelfa. So heisst das kleine Dorf, das etwa 40 Kilometer südöstlich von der tunesischen Hauptstadt Tunis liegt. Hier unterrichtet die Primarlehrerin Sarra Ben Ftima, die wir an diesem Vormittag besuchen. Das rosarote Schulhaus ist nicht einfach zu erreichen, der Weg führt über einen grossen Markt mit unzähligen Menschen. Es ist laut und hektisch, die Bauern vom Land preisen Hühner, Kartoffeln und Orangen an. Beim Schulhaus angekommen, wird es nicht merklich ruhiger als auf dem Markt. 36 Schülerinnen und Schüler befinden sich in der Klasse von Ben Ftima. Sie sind neugierig, herzlich, ungestüm. Unter ihnen befinden sich auch Kinder mit Behinderung.
«Die Klasse ist sehr aufgeregt», sagt Ben Ftima und schmunzelt. Wenn Ruhe einkehren soll, klatscht sie in die Hände. Aber auf eine rhythmische Art – die Gestik hat nichts Aufdringliches und ist trotzdem wirksam. An diesem Tag steht etwas Besonderes auf dem Programm. Die Schülerinnen und Schüler kommen in den Genuss der sogenannten Cartha Go Box, einem Spiel, das aus einer Zusammenarbeit zwischen tunesischen und Schweizer Dozierenden und Studierenden entwickelt wurde. Ben Ftima packt das Spiel aus. Sie hat die Figuren zuerst gezeichnet und dann mit Lehm eigenhändig hergestellt. «Es war viel Arbeit», erzählt sie später. Sie hätte gerne mittendrin aufgegeben. So wie einige ihrer Gruppe, die zu Beginn noch dabei waren und nach einer Weile die Geduld verloren und absprangen. Denn so ein Spiel zu konzipieren, brauche viel Motivation, sagt Ben Ftima. Sie hat gemeinsam mit Mitstudierenden die Cartha Go Box im letzten Jahr ihres Studiums entwickelt und zwar im Rahmen des internationalen Projekts Engage. Das Projekt hatte zum Ziel, eine innovative pädagogische «Werkzeugkiste» zu entwickeln, um Demokratiebildung und überfachliche Kompetenzen an tunesischen Schulen zu fördern. Unterstützung erhielten die Studierenden von Dozierenden ihrer Hochschule, dem «Institut supérieur des études appliquées en humanité de Zaghouan» (ISEAHZ), der Nichtregierungsinstitution IIDebate sowie von der Abteilung Internationale Bildungsentwicklung der PH Zürich. Im November 2019 reiste Sarra Ben Ftima zum Auftakt des Projekts gemeinsam mit einer Kollegin und mit Dozierenden ihrer Hochschule nach Zürich, wo sie den Unterricht an einer Primarschule besuchte und in einem Modul an der PH Zürich mitwirkte. «Wir hatten eine Gemeinsamkeit, und zwar: Bildung ist ein Herzensthema.»
Lernen im Team
Anwesend sind an diesem Tag auch zwei Inspektoren und der Schuldirektor. Sie wollen wissen, welches Lehrmittel
internationale Aufmerksamkeit erhält. Das Spiel vereint verschiedene Fächer und erlaubt den Schülerinnen und Schülern, auf interdisziplinäre Weise Geschichte, Mathematik und Demokratiebildung zu lernen. Und zwar auf eine spielerische Art und in Teamarbeit. Denn das Miteinander und soziale Kompetenzen seien eine wesentliche Fähigkeit, die in jedem Beruf und Umfeld gefragt werde, sagt Ben Ftima. Also los geht’s! Zuerst werden Gruppen gebildet, danach die Karten gezogen und die Aufgaben verteilt. Jene Gruppe, die eine Stufe weiterkommt, erhält eine Silbermünze. Aus Alufolie, natürlich. Trotzdem stürzen sich die Primarschüler darauf. Sie geben alles, um die Aufgaben zu lösen und die Silbermünzen einzuheimsen. Zum Beispiel geht es bei einer Aufgabe um Dido, die eine phönizische Prinzessin war und gemäss der Überlieferung bei der Gründung der Stadt Karthago mit einer Kuhhaut das Land für ihr Volk abstecken durfte. Und was machte sie, um eine möglichst grosse Fläche zu erhalten? Sie schnitt das Fell in dünne Streifen und nähte sie zu einem Band zusammen. Die Frage ist: Welche geometrische Form bietet sich an, um den Rand für ein möglichst weites Territorium zu legen? Für ein paar Minuten wird es sogar etwas still im Klassenzimmer, alle rechnen, messen, überlegen. Die Zeit läuft, alle Aufgaben müssen innerhalb von einigen Minuten gelöst werden.
Kreativer Lösungsansatz als Erfolgsfaktor
Das Lehrmittel kombiniert verschiedene Trümpfe. Denn auch Teamgeist und Sprache werden bei diesem Spiel gefördert. Nach jeder Gruppenarbeit präsentiert eine Schülerin oder ein Schüler das Resultat und legt die Überlegungen dar, die in der Gruppe gemacht wurden. Auch die Lösungsschritte werden erklärt. Denn nicht nur das Resultat zählt, sondern auch der Weg dorthin. Das wird in prägnanten Worten beschrieben und präsentiert. Ben Ftima hört aufmerksam zu, korrigiert, fragt nach und lobt. Eine Gruppe von Mädchen gewinnt das Spiel, sie fallen mit besonders kreativen Ansätzen auf und sind von Anfang an motiviert bei der Sache. Auf Nachfrage erzählt Ben Ftima, dass alle Kinder in dieser Klasse aus Bauern- oder Fabrikarbeiter-Familien stammen.
Als die Mittagsglocke ertönt, stürmen die Primarschülerinnen und -schüler hinaus auf die Wiese vor dem rosaroten Schulgebäude. Ben Ftima seufzt und sitzt zum ersten Mal an diesem Vormittag auf einen Stuhl. Das war anstrengend! Aber lohnenswert. Sie sagt: «Kinder lernen am bestem beim Spielen.» Wenn also möglichst viel Wissen in ein Spiel verpackt werde, habe dies einen ganz anderen Effekt, als wenn die Schülerinnen und Schüler auf ihren Stühlen sitzen und stundenlang zuhören. Natürlich sei eine gute Abwechslung wichtig, findet sie. Doch von der Cartha Go Box ist sie sehr überzeugt. «Das Gelernte bleibt wirklich haften.»