«Wir müssen die Leute mit Kopf, Herz und Hand ansprechen»

René Estermann, Direktor des Umwelt- und Gesundheitsschutzes der Stadt Zürich, blickt auf über 30 Jahre Berufserfahrung im Umweltschutz zurück. Dabei hat er gelernt, dass Wissensvermittlung alleine nicht ausreicht, um in der breiten Bevölkerung eine Verhaltensänderung hervorzurufen.

Hat sich bereits in seiner Jugend für den Umweltschutz eingesetzt: René Estermann, Direktor des Umwelt- und Gesundheitsschutzes der Stadt Zürich. Foto: Nelly Rodriguez

Sie sind in Ihrer Position für zwei Aspekte von Nachhaltigkeit zuständig: Für den Schutz der Gesundheit und der Umwelt. Wir beschränken uns in diesem Gespräch auf ökologische Nachhaltigkeit. Welches sind hier die wichtigsten Themen für die Stadt Zürich?
Beim Klimaschutz sind die Hauptthemen im Moment der Ersatz von fossilen Heizungen, die Elektrifizierung der Mobilität und eine nachhaltige Ernährung. Hier haben wir die grösste Hebelwirkung. Bis im Jahr 2040 sollen in der Stadt Zürich netto null Treibhausgase produziert werden, also nicht mehr Treibhausgase ausgestossen werden, als durch Reduktionsmassnahmen wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir auf die relevanten Aktivitäten setzen.

Die Themen mit der grössten Wirkung sind nicht immer dieselben Themen, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Es wird lieber über Plastiksäcke und Verpackungen gestritten. Erleben Sie das auch so?
Manchmal ist es schon schwierig, der breiten Bevölkerung aufzuzeigen, was wirklich relevant ist. Die Plastiksackdiskussion ist wirklich nicht so relevant wie das Heizen, Reisen und die Ernährung. Ob ich Ihnen hier einzeln verpackte Guetzli anbiete, ist nicht entscheidend. Wahrscheinlich ist das sogar nachhaltiger, als wenn ich Ihnen Guetzli aus einer Packung offerieren würde, die dann vielleicht nicht aufgegessen werden. In Diskussionen um Umweltthemen stösst man auch immer wieder auf Dogmen, die nicht zielführend sind. Lokal und regional etwa sind wichtige Pfeiler einer nachhaltigen Ernährung. Aber eine Tomate aus einem fossil-beheizten Gewächshaus aus der Region hat die schlechtere Bilanz als eine unbeheizte Tomate aus dem Süden.

Weshalb verbeissen wir uns in bestimmte Themen wie Plastikverpackungen?
Die Leute wollen einen Beitrag leisten und zwar möglichst in ihrem Alltag. Ich sehe das positiv. Aber auch hier gilt es, ehrlich zu sein und die grossen Aufgaben anzusprechen. Wenn jemand immer wieder schnell irgendwo hinfliegt, ist es egal, worin sein Salat verpackt ist. Nicht, dass man darauf nicht achten soll. Aber wichtig ist, dass das Relevante zuerst kommt und wir dort zügig und konsequent handeln. Dass eine Heizung rasch ersetzt wird, dass man auf eine Flugreise verzichtet oder diese hinausschiebt und Ferien kumuliert, um dann einmal innert fünf bis zehn Jahren eine weitere Reise zu machen. Da darf man ruhig auch einmal mit dem Arbeitgeber um unbezahlten Urlaub verhandeln.

Wie können Sie bei Umweltthemen ein Umdenken bewirken?
Hier müssen wir eine breite Klaviatur spielen und die Leute mit Kopf, Herz und Hand ansprechen. Neben Wissen und Argumenten funktioniert vieles über Emotionen, Betroffenheit und Erfahrung, da spielt die Vorbildwirkung eine grosse Rolle. Wenn eine vertrauenswürdige, akzeptierte Person etwas vermittelt, kommt das an. Nachmachen ist ein wichtiges Prinzip beim Umweltschutz. Überhaupt ist es wichtig, dass die Menschen ins Machen kommen. Die Stadt experimentiert viel mit partizipativen Projekten und Aktivitäten mit Hands-on-Approach. Morgen beispielsweise findet in Zürich ein grosses öffentliches Bankett statt, bei dem mit Foodwaste gekocht wird. Da schälen die Leute Gemüse, das sonst weggeworfen würde, und essen nachher eine Suppe, die daraus gekocht wurde. Wir unterstützen viele solche Projekte und machen auch Citizen-Science-Projekte, bei denen die Bevölkerung uns bei Forschungsprojekten hilft.

Wie funktioniert das?
Ein aktuelles Projekt heisst Luftbeeren. Für dieses Projekt haben Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt von uns ein Erdbeerpflänzchen erhalten und zuhause eingepflanzt. Nach acht Wochen haben sie die Blätter nach einem bestimmten Schema ausgeschnitten und uns zugeschickt. Diese Blätter werden nun auf Feinstaub untersucht. So wissen die Beteiligten, wie viel Feinstaub sie auf ihrem Balkon haben, und wir haben eine Idee davon, wie die Luftqualität an dem Ort ist, wo sie wohnen. Durch das Mitforschen begannen die Leute sich plötzlich für Feinstaub zu interessieren und damit für ein Thema, das sie zuvor nicht interessiert hatte. Denn die Luft in der Stadt Zürich ist grundsätzlich ja gut, der Feinstaub allerdings ist ein Problem.

Diese Erdbeeren sind ein konkreter Weg, um Leute für ein Thema zu sensibilisieren. Was braucht es, damit Leute ihr Verhalten ändern?
Wenn jemand von einer Problematik betroffen ist oder betroffen gemacht werden kann, hat man eine hohe Chance, dass die Person ihr Verhalten ändert. Deshalb gehen wir mit unseren Kampagnen auch Themen wie Food, Konsum oder Mobilität an, von denen alle im Alltag betroffen sind. Bei anderen Themen wie den Heizungen gehen wir die betroffenen Gruppen gezielt an: die Hausbesitzer oder Sanitärinstallateure. Wir informieren sie über nachhaltige Lösungen und zeigen beispielsweise auf, dass diese Lösungen über die gesamte Lebensdauer hinweg gar nicht teurer sind. Doch Wissensvermittlung ist nur ein Mittel, um diese Ziele zu erreichen und in keiner Art und Weise hinreichend. Etwas vom Wichtigsten, was ich in den 30 Jahren im Umweltschutz gelernt habe: Wenn etwas in der Breite wirken soll, dürfen wir nicht auf Freiwilligkeit alleine zählen. Die Arbeit im Abfall- und Entsorgungsbereich war für mich ein Lehrbeispiel.

Was haben Sie da gelernt?
Wir, eine Gruppe engagierter junger Menschen, sind mit unserem Quartierkompost in den 80er-Jahren freiwillig vorangegangen und haben Stauden und Sonnenblumen in unserer Gemeinde mit dem Leiterwagen zum Kompostieren eingesammelt. In dieser Zeit erlebte der Umweltschutz durch das Waldsterben einen ersten Hype und in der Gesellschaft war die Bereitschaft da, aktiv etwas zu verändern. Die Leute hatten das Gefühl, mit ihrem Kompostchübeli die Welt zu retten. Das war eine gute Übung, aber so kann man keine raschen Erfolge erzielen. Freiwilligkeit ist ein Konzept für Innovationen und Pioniere. Sie zeigen auf, was möglich ist und schaffen Akzeptanz für ein Verhalten oder bestimmte Themen. Wenn diese Themen gesellschaftlich breit akzeptiert sind, braucht es klare Regulatorien für rasche effiziente Umsetzungen. Zum Beispiel, dass man Abfall nicht überall deponieren kann. Wichtig war damals auch die Einführung des Verursacherprinzips, dass Abfall kostete. Ich musste im Auftrag der Kantone Gemeinden, die anfangs der 2000er-Jahre immer noch eine Abfalldeponie am Rande des Dorfes hatten, wo die Leute einfach ihren Müll deponierten, ein Stück weit zwingen.

Gesetze und Verbote sind unbeliebt.
Dabei sind sie das effizienteste Mittel für den Umweltschutz, und sie funktionieren dann, wenn die Problematiken gesellschaftlich breit akzeptiert sind. Früher haben die Leute in der Schweiz alles in die Wälder geschmissen oder in den eigenen Gärten verbrannt. Das glaubt man heute gar nicht mehr. Auch die Gewässer waren richtig verschmutzt. Als ich ein Kind war, wäre niemand in die Aare schwimmen gegangen. Dahin möchte niemand mehr zurück. Begleitend zu solchen Regulativen muss man die Akzeptanz für diese fördern und Massnahmen ergreifen, um wirtschaftliche Nachteile abzufedern. Ein Beispiel sind Förderbeiträge für den Ersatz von Öl- und Gasheizungen.

Wo stehen wir heute beim Umweltschutz?
Mitten im Veränderungsprozess. Bei solchen Veränderungsprozessen sagen die Leute am Anfang: «Ach, das stimmt doch alles nicht.» Dann heisst es: «Mag sein, dass etwas dran ist, aber andere sind schuld.» Irgendwann entwickelt sich ein Bewusstsein, dass etwas passieren muss, dass man selbst betroffen und auch selbst Teil der Lösung ist. Da sind wir heute angelangt. Der Klimastreik hat den Klimaschutz in der breiten Masse etabliert. Doch in zehn Jahren werden wir zurückschauen und uns fragen, wie wir nur so lange warten konnten und sagen: Wie war es möglich, dass im Jahr 2021 in der Stadt Zürich immer noch 70 Prozent der zu ersetzenden Heizungen durch neue Gas- und Ölheizungen ersetzt wurden!

Über René Estermann

René Estermann (1966) wächst in Wangen bei Olten auf und interessiert sich schon früh für die Nahrungsmittelproduktion und Umweltfragen. Als Gymnasiast regt er sich darüber auf, dass Gartenabfälle einfach verbrannt werden, und baut in seiner Wohngemeinde den ersten Quartierkompost auf.

Als 24-Jähriger wird er vom Umweltbeauftragten von Olten angefragt, ob er dasselbe für die Stadt organisieren könnte. So gründet er 1990 während des Studiums der Agrarökonomie an der ETH Zürich die Firma Composto+, die für Gemeinden, Kantone und den Bund Kompostierungs- und Vergärungssysteme aufbaut. Als Abfall- und Entsorgungswirtschaft in der Schweiz weitgehend etabliert sind, sucht er nach 16 Jahren als Geschäftsführer der eigenen Firma eine neue Herausforderung. 2006 wird er CEO der Stiftung myclimate, 2019 wechselt er zu South Pole, seit August 2020 ist er Direktor des Umwelt- und Gesundheitsschutzes Zürich.

Estermann lebt mit seiner Familie in Suhr (AG), wo er einen Obsthain mit mehreren hundert Obstbäumen pflegt. Zuletzt hat er dort 75 Edelkastanienbäume gesetzt und damit Bäume, die auch in einem trockeneren, wärmeren Klima gedeihen.