Margrit Stamm gilt in der Schweiz als die Grande Dame der Pädagogik. Seit vielen Jahren setzt sich die Forscherin für eine offene, konstruktive Debatte zwischen Wissenschaft und Praxis ein. Nun wurde sie mit dem Bildungspreis der PH Zürich für ihr Lebenswerk geehrt. Doch ans Aufhören denkt sie noch lange nicht.
Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit frühkindlicher Förderung und haben unzählige Forschungsprojekte durchgeführt. Was ist Ihre Erkenntnis?
Als wir im Auftrag der Unesco im Jahr 2009 die erste Studie zu frühkindlicher Bildung in der Schweiz durchführten, war der Widerstand immens. Heute ist das Thema etabliert. Dennoch fallen benachteiligte Kinder in der frühen Kindheit noch immer durch die Maschen. Wenn die Defizite erst im Kindergarten bemerkt werden, ist es viel schwieriger, diese auszugleichen als vorher. Es ist erstaunlich, dass sich da nicht mehr bewegt für die, die es am nötigsten hätten. Da ich selbst eine Bildungsaufsteigerin aus einem Arbeitermilieu bin, achtete ich immer besonders auf diese Gruppe. Oft müssen sie viel mehr leisten als Kinder aus gutsituierten Familien. Mich beschäftigt deshalb stark, wie die Begabungen benachteiligter Kinder besser erkannt und gefördert werden können. Doch das ist letztendlich auch eine politische Frage. Weiter treibt mich die Frage um, wie man Mädchen und Jungen im Schulsystem gerechter werden kann, ohne sie gegeneinander auszuspielen.
Sie waren selbst einst Primarlehrerin. Könnten Sie sich vorstellen, wieder zu unterrichten?
Fünf Jahre lang habe ich auf der Mittelstufe unterrichtet und anschliessend auch auf der Sekundarstufe einige Vikariate gemacht. Mit dem Herzen und von der Intuition her würde ich morgen wieder unterrichten. Doch ich habe auch schon nachts geträumt, dass ich tatsächlich vor einer Klasse stehe – und dann nicht mehr recht weiss, wie das geht (lacht). Denn abgesehen vom Intuitiven stellt der Beruf im Praktischen hohe Ansprüche, die in den letzten Jahren noch gestiegen sind. Das zeigen auch Gespräche, die ich regelmässig mit im Beruf stehenden Kolleginnen und Kollegen führe. Es ist unglaublich, wie professionell sie agieren. Mit Kindern und Studierenden arbeiten ist etwas, das ich wahnsinnig gerne tue. Doch ist es gerade auch auf der Tertiärstufe schwierig, alle an dem Punkt abzuholen, wo sie gerade stehen.
Was sind in der Schule die grössten Herausforderungen für Lehrpersonen?
Um positiv anzufangen: Die Pandemie hat gezeigt, welche enorme soziale Bedeutung Lehrpersonen haben. Und wie tief oft ihre Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern geht. Es ist aber auch so, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern sehr anspruchsvoll ist. Wenn etwa ihre ambitionierte Einschätzung über die Leistungen des Kindes nicht mit denen der Lehrpersonen übereinstimmen. Auf der anderen Seite haben wir Brennpunktgebiete, wo es schwierig ist, überhaupt eine Elternarbeit hinzukriegen – und natürlich die starke Heterogenität bei gleichzeitig knappen finanziellen Ressourcen. Oft müssen Kinder heute einfach funktionieren, es wird normgerechtes und vor allem leistungsorientiertes Verhalten erwartet, gleichzeitig wissen wir um die grossen Unterschiede in ihrer Entwicklung. Zudem erhalten die Kinder immer weniger Zeit, statt Massnahmen würde hier manchmal etwa nur schon eine flexiblere Einschulung helfen, die mehr Raum für die individuelle Entwicklung bietet.
Eltern sind wichtige Akteure in der Schule. Sind Sie zufrieden mit den Vätern und Müttern?
Viele Eltern haben meine Bewunderung und ich beobachte eine grosse Fürsorglichkeit und Unterstützung für die Kinder. Eine sehr erfreuliche Entwicklung ist, dass sich Väter heute viel mehr in der Kindererziehung, aber ebenso in der Betreuung und Pflege engagieren. Da ist enorm viel passiert in den letzten Jahren. Es besteht aber eine Tendenz dazu, den Kindern zu viel abnehmen zu wollen und ihnen jede Hürde wegzuräumen. Dabei sind auch Misserfolge wichtig für Kinder, weil sie daraus lernen. Doch der überbehütende Erziehungsstil und die bildungsambitiösen Kulturen, die in manchen Elternhäusern weit verbreitet sind, erschweren dies.
Sie haben die Forschung der Erziehungswissenschaften in der Schweiz stark beeinflusst. Macht Sie das stolz?
Selber habe ich schon das Gefühl, dass ich viel erreicht habe. Auf das bin ich stolz. Aber das sind viele, viele Mosaiksteinchen, die nun ein grosses Bild ergeben. Ich hatte eigentlich immer nur die Steinchen gesammelt. Dafür habe ich aber hart gearbeitet, gerade zu meiner Zeit an der Universität oft 80 Stunden die Woche. Vielleicht ist es eine Fähigkeit von mir, neue Phänomene aus unseren Forschungsergebnissen herauszulesen und sie zu thematisieren. So kam ich zur Chancengerechtigkeit oder zur frühkindlichen Bildung. Ausserdem ist es mir wichtig, wissenschaftliche Erkenntnisse herunterzubrechen und so zu formulieren, dass mich alle Menschen verstehen.
Erhalten Sie denn als Forscherin dieses Gehör? Wird das, was Sie herausfinden, in der Praxis genügend umgesetzt?
Es ist mir ein Anliegen, dass wir gehört – und verstanden werden. Darum muss der Wissenstransfer so gestaltet sein, dass uns auch jemand ohne ein Studium versteht. Wir müssen aus dem Elfenbeinturm heraus. Wenn in zwanzig Minuten verstanden wird, was wir herausgefunden haben, dann findet das eher in die Praxis Eingang. Dafür braucht es aber eine offene Diskussion, die ist leider nicht immer gegeben.
Werden Sie nie forschungsmüde?
Ganz im Gegenteil: Ich habe den schönsten Beruf der Welt. Seit ich von der Universität weg bin, habe ich bei meiner Arbeit viel mehr Freiheiten. Und ich pflege eine gute Work-Life-Balance. Meine Arbeit ist auch ein Lebenselixier. Mir ist es zudem wichtig, besonders Müttern zu sagen, dass es durchaus nach der Kinderphase möglich ist, nochmals ganz neue Wege zu gehen – oder jungen Menschen, dass sie nicht schon mit 40 alles erreicht haben müssen. Ich selbst wurde ja auch erst nach fünfzig habilitiert.
Verraten Sie uns mehr über Ihre nächsten Pläne?
Derzeit arbeiten wir an einer Studie zu Arbeiterkindern, die aus benachteiligten Verhältnissen stammen. Das Spezielle daran ist, dass wir die positiven Faktoren und die Begabung untersuchen. Also: Was führt dennoch zu einem erfolgreichen Bildungsweg, auch bei erschwerten Bedingungen? Unser Bildungssystem ist nach wie vor stark auf Leistung ausgerichtet – ein Thema, mit dem ich mich in einem neuen Buch «Auf Hochleistung getrimmt» beschäftige, das nächstes Jahr erscheinen wird. Ich untersuche dort, wie sich der akute Akademisierungstrend und unsere Optimierungsgesellschaft auf die Schulen und Elternhäuser auswirken. Dass es heute eine Matura braucht, um etwa Hebamme oder Kindergärtner zu werden – das wirkt sich auf Bildungsambitionen aus und erzeugt oft Leistungsdruck. Hier versuche ich, forschungsgestützt eine Diskussionsgrundlage zu bieten. Bisherige Artikel, die ich über den Prüfungsund Leistungsdruck im Bildungssystem geschrieben habe, sind auf grosse Resonanz gestossen.
Was bedeutet Ihnen der Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich?
Sehr viel! Besonders auch, weil die PH Zürich eine sehr fortschrittliche Hochschule ist. Ausserdem drückt er Wertschätzung für nicht ganz geradlinige Bildungsbiografien wie meine aus, das motiviert vielleicht auch junge Leute. Das freut mich ausserordentlich.