Bildung für Nachhaltige Entwicklung bedeutet, sich mit den Konsequenzen heutiger Entscheidungen auseinanderzusetzen und ein Verantwortungsbewusstsein für die eigene Rolle in der Gesellschaft zu entwickeln. Diese Haltung sollte nicht nur im Unterricht vermittelt werden, sondern überall im Schulalltag gelebt werden.
Mit dem Lehrplan 21 wurde Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) als fächerübergreifender Auftrag im Lehrplan verankert und damit zu einem vielschichtigen Begriff. Monika Albrecht, Dozentin für Wirtschaft, Arbeit, Haushalt und Bereichsleiterin auf der Sekundarstufe I an der PH Zürich weist zunächst auf eine grundlegende Lesart von BNE hin: «Bildung bildet die Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung.» Lesen und schreiben, sich informieren, Dinge verstehen und informierte Entscheidungen treffen können, sind notwendige Bedingungen für eine soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung. Doch mit dem Begriff BNE werde im Lehrplan 21 ein ganz bestimmtes Verständnis von Bildung verankert. So steht im Grundlagentext zu BNE: «Es geht darum, Wissen und Können aufzubauen, das die Menschen befähigt, Zusammenhänge zu verstehen, sich als eigenständige Personen in der Welt zurechtzufinden, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv an gesellschaftlichen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen für eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich Nachhaltige Entwicklung zu beteiligen.»
Damit werde im Grunde ein humanistisches Bildungsverständnis und eigentlich nichts Neues beschrieben, sagt Albrecht. Doch dass man die Auswirkungen der eigenen Handlungen und Entscheidungen reflektiert und ein Bewusstsein für seine Rolle in der Gesellschaft entwickelt, sei keine Selbstverständlichkeit. Deshalb sei der Begriff BNE im Lehrplan alles andere als überflüssig. «Das Label BNE stärkt das Bewusstsein für diese Bildungsperspektive. Und es macht sichtbar, was alles zur Bildung für Nachhaltige Entwicklung dazugehört.» Denn Nachhaltigkeit werde oft noch auf ökologische Themen reduziert. Dabei gehören auch soziale und wirtschaftliche Aspekte zu einer nachhaltigen Entwicklung.
Dies verdeutlichen auch die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen, die für BNE einen inhaltlichen Orientierungsrahmen bilden. Zu ihnen gehören etwa das Ende von Armut und Hunger, Geschlechtergleichheit, Zugang zu bezahlbarer und sauberer Energie oder menschenwürdige Arbeit. Die sieben fächerübergreifenden Themen im Lehrplan 21, die im Kontext von BNE formuliert werden, darunter Gesundheit, Wirtschaft und Konsum, Umwelt und natürliche Ressourcen oder globale Entwicklung und Frieden, sind daran anschlussfähig.
Kein richtig oder falsch
Manchmal tauche von Lehrpersonen die Frage auf, wie man nun auch noch BNE als zusätzlichen Auftrag im Unterricht unterbringen könne, sagt Albrecht. Es gehe jedoch weniger darum, bestimmte Themen auch noch unterzubringen, als um ein Bewusstsein der Lehrperson für Fragen der Nachhaltigkeit sowie um die drei didaktischen Grundprinzipien vernetzendes Lernen, Zukunftsorientierung und Partizipation. Diese gilt es im Unterricht zu stärken, damit sich Kinder mit gesellschaftlich komplexen Themen auseinandersetzen können, sich der Folgen des eigenen Handelns bewusst werden und sich als aktiven Teil der Gesellschaft betrachten.
Gemäss Albrecht beginnt diese Förderung im ganz Kleinen, etwa damit, dass Kinder im Unterricht mehr Entscheidungsmöglichkeiten haben, neben Pflicht- auch Wahlaufgaben haben oder mit Lernlandschaften arbeiten und so ein Stück Verantwortung für ihr Lernen übernehmen. Oder dass vor einem Klassenlager darüber diskutiert wird, wie für die Woche eingekauft wird. Wollen wir Fleisch essen? Sollen wir Bio einkaufen? Können wir uns das leisten oder müssen wir dann auf etwas verzichten? Werden solche Fragen gemeinsam diskutiert, zeigt sich auch, wie ökologische, soziale und wirtschaftliche Dimensionen von Nachhaltigkeit verschränkt sind und dass sich Ansprüche der ökologischen Tragfähigkeit, ökonomische Möglichkeiten sowie individuelle wie gesellschaftliche Bedürfnisse zum Teil widersprechen. «Wichtig ist bei solchen Diskussionen, dass es keine richtige oder falsche Antwort gibt. Entscheidend ist, dass die Schülerinnen und Schüler in eine Auseinandersetzung mit dem Thema kommen, ihr Verhalten reflektieren und lernen, wie sie mit unterschiedlichen Ansprüchen umgehen», sagt Albrecht. Sie weist auch auf die Bedeutung des Klassenrats für BNE hin. Hier lernen die Kinder nicht nur, sich mit anderen Meinungen und Perspektiven auseinanderzusetzen, sondern ebenso eigene Bedürfnisse einzubringen.
Ausserhalb des Fächerkorsetts
Entscheidend sei, dass die Lehrperson die Grundhaltung, die es zu vermitteln gilt, selbst mitbringt, sagt Albrecht. Die PH Zürich hat dabei in der Ausbildung von Studentinnen und Studenten die gleiche Aufgabe wie die Schulen. Diskussionen um Themen der nachhaltigen Entwicklung spielen auch hier eine wichtige Rolle. Albrecht beobachtet bei ihren Studierenden, dass diese sich seit einigen Jahren wieder intensiver auf diese Auseinandersetzungen einlassen.
Damit BNE im Unterricht tatsächlich stattfindet, brauchen Lehrpersonen aber auch konkrete Praxisideen, so Albrecht. Lehrmittel sind diesbezüglich bedeutend, um BNE an den Schulen voranzutreiben. Einige Fachlehrmittel stellen bereits gute Bezüge zu BNE her, zudem finden Lehrpersonen auf der Plattform éducation21 eine Vielzahl von Lehrmitteln und Angeboten mit Bezug zu BNE und verschiedenen Fächern (siehe Blogbeitrag «Angebote für den Unterricht mit Fokus auf BNE»). Diese sind insofern wichtig, als die komplexen Themen von BNE sich nicht einem einzelnen Fach zuordnen lassen. Beim Thema Kleider etwa sind modische Trends und gestalterische Aspekte unmittelbar mit Fragen der Produktionsweise und dem Umgang mit Ressourcen, den Transportwegen, den Arbeitsbedingungen und somit Fragen der sozialen Gerechtigkeit verbunden. Um diese komplexen Zusammenhänge zu behandeln, ist eine fächerübergreifende Herangehensweise nötig, was insbesondere auf der Sekundarstufe sehr herausfordernd und anspruchsvoll sein kann.
«Um diese Themen ausserhalb der klassischen Fachbereiche zu thematisieren, braucht es ausserschulische Lernorte sowie fächerübergreifende Anlässe und Lernformen», sagt Albrecht. Das erfordert gute Absprachen im Team, aber auch eine Schulleitung, die entsprechende Gefässe ermöglicht und fördert. Auf der Sekundarstufe seien viele Schulen diesbezüglich auf einem guten Weg, sagt sie. Dabei gelte es ein gutes Gleichgewicht zwischen individualisierten und gemeinsamen Lernformen zu finden, sodass Gelegenheiten für Diskussionen nicht zu kurz kommen und die überfachlichen Kompetenzen im alltäglichen schulischen Miteinander gefördert werden. Denn bei BNE gehe es immer um gesellschaftliche Herausforderungen, die sich nur gemeinsam lösen lassen.
Lebensnah und handlungsorientiert
Auch auf den unteren Schulstufen kann man Schülerinnen und Schüler bereits an gesellschaftliche Debatten rund um eine nachhaltige Entwicklung heranführen und mit passenden Methoden Interessenskonflikte simulieren. Wird das Thema Wald mit einer ersten Klasse behandelt, können die Kinder beispielsweise aus der Perspektive einer Joggerin, eines Naturschützers und einer Försterin überlegen, was für diese den Wald wertvoll macht. Während die Joggerin möglichst viele Wege möchte, sind dem Biologen naturnahe Bereiche mit Totholz, dem Förster dagegen gut befahrbare Zugänge wichtig. Nach einer entdeckenden Auseinandersetzung mit diesen Bedürfnissen nehmen die Kinder anschliessend bewusst eine bestimmte Rolle ein und versuchen gemeinsam auszuhandeln, wie der Wald für alle wertvoll bleibt.
«Wichtig ist, dass die behandelten Themen nahe an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler sind», sagt Anita Schneider, Dozentin für Natur, Mensch, Gesellschaft auf der Primarstufe. Aus komplexen Themen passende Inhalte zu wählen und stufengerecht herunterzubrechen, brauche einiges an Fingerspitzengefühl und eine bewusste Auseinandersetzung. So beobachtet sie bei Studierenden oder Berufseinsteigenden, dass diese manchmal Konzepte voraussetzen, die Kinder noch nicht haben. «Wenn eine Lehrperson erklärt, wie viel Energie oder Wasser die Herstellung einer Verpackung braucht, können sich Kinder oft nichts darunter vorstellen», sagt Schneider. Schliesslich könnten selbst Erwachsene mit solchen Angaben oft wenig anfangen. Damit diese abstrakten Grössen greifbar werden, kann man Kinder Wassereimer abfüllen lassen, damit sie nachvollziehen können, wie viel Wasser in einem Produkt steckt. Oder man stellt im Unterricht Papier her und geht der Frage nach, woher das Material dafür kommt.
Eine weitere Herausforderung von BNE ist, dass die thematisierten Konsequenzen heutiger Handlungen und Entscheidungen zeitlich und räumlich oft weit entfernt und damit nicht unmittelbar spürbar oder nur schwer einzuschätzen sind. Selbst für Erwachsene ist häufig nicht greifbar, was ihre politische Stimmabgabe oder ein Kaufentscheid bewirkt, welche Auswirkungen das konsumierte Süssgetränk auf die Gesundheit oder die Flugreise für das Klima hat. Von Bedeutung ist deshalb, dass die Schülerinnen und Schüler im Unterricht die Folgen des eigenen Handelns erleben können. Dass sie etwa beobachten können, wie lange es braucht, bis ein Rüebli im Schülergarten wächst, oder ob tatsächlich mehr Insekten kommen, wenn sie ihr Schulareal umgestalten.
BNE als Führungsaufgabe
«Wichtig ist, dass Wissen zu diesen Themen nicht nur gelernt, sondern dass sich Erkenntnis im Handeln niederschlägt», beschreibt Schneider einen Grundsatz, damit BNE eine Wirkung hat. Denn wenn Kinder nach einer Unterrichtseinheit zu Biodiversität auf dem Schulhausplatz eine betonierte Einöde antreffen, lernen sie, dass sie das Gelernte nicht ernst nehmen müssen. Dabei kommt nicht nur Lehrpersonen eine Vorbildrolle zu, sondern der Schule als Ganzes. «Bildung für Nachhaltige Entwicklung kann nicht nur im Unterricht stattfinden, sondern muss in allen schulischen Bereichen verankert sein», so Schneider. Das beginnt bei der Mitwirkung von Schülerinnen und Schülern, geht über das Teilen von Unterrichtsmaterialien im Team und Fragen der Gesundheit am Arbeitsplatz bis hin zu Strukturfragen rund um fächerübergreifende Unterrichtsgefässe oder Fragen der Mobilität: dass Kinder etwa nicht mit dem Auto zur Schule gebracht werden.
Auf der Idee, dass Bildung für Nachhaltige Entwicklung als Gesamtschulprozess gelebt werden muss, fusst auch das Schulnetz21. Das Schweizer Netzwerk gesundheitsfördernder und nachhaltiger Schulen vernetzt interessierte Schulen und begleitet sie in ihrer nachhaltigen Entwicklung. Dafür absolviert an den beteiligten Schulen eine Kontaktperson eine Weiterbildung des Schulnetz21, um den Entwicklungsprozess an der Schule zu koordinieren. Im Kanton Zürich unterstützen die PH Zürich und die Stellen für Suchtprävention zudem den schulinternen Entwicklungsprozess. Gemäss Schneider setzen die beteiligten Schulen sehr unterschiedliche Schwerpunkte. So will eine Sekundarschule ihren Pausenkiosk gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern nachhaltiger gestalten, eine andere Schule möchte durch regelmässige Aktivitäten zu Biodiversität die Sensibilität für Vielfalt fördern. Dabei dürften diese Projekte nicht als Einzelmassnahmen verstanden werden, nachhaltige Entwicklung müsste vielmehr als übergeordnetes Ziel formuliert werden. «Bildung für Nachhaltige Entwicklung ist auch eine Führungsaufgabe», so Schneider.
Impulse von allen Seiten
Auch an der PH Zürich wird Bildung für Nachhaltige Entwicklung nicht nur als Thema in der Aus- und Weiterbildung verstanden, sondern ebenso als interner Lern- und Entwicklungsprozess. So organisiert die Kommission Gesundheit und Umwelt regelmässig Veranstaltungen für Mitarbeitende – etwa zur Gesundheit am Arbeitsplatz oder zur nachhaltigen Mobilität. Zudem ist die PH Zürich zusammen mit der UZH, ZHAW und ZHdK am Aufbau des Zurich Knowledge Center for Sustainable Development (ZKSD) beteiligt, einem Kompetenz- und Wissenszentrum zu anwendungsbezogener Nachhaltigkeitsforschung. Ziel des Zentrums ist es, Erkenntnisse aller vier Trägerinstitutionen für die Lehre und den gesellschaftlichen Diskurs zu nutzen.
«Ein solches institutionell verankertes Engagement ist wichtig, um die nachhaltige Entwicklung gezielt voranzutreiben», sagt Dominik Allenspach, Nachhaltigkeitsverantwortlicher der PH Zürich. Genauso entscheidend seien jedoch Entwicklungen, die von einzelnen Mitarbeitenden angestossen werden. Er streicht dabei die Arbeit von Dozierenden heraus, die sich mit der Arbeitsgruppe BNE schon lange für den Stellenwert von BNE in der Aus- und Weiterbildung und die fachliche Weiterentwicklung einsetzen. Wichtig seien ausserdem Forderungen von Studierenden, die insbesondere im Rahmen der hochschulübergreifenden Nachhaltigkeitswoche Zürich gestellt werden. Zudem verweist er darauf, dass Bildungsinstitutionen auch von aussen vorangetrieben würden, ein Beispiel ist etwa das im Sommer 2021 publizierte Hochschulrating des WWF, das die institutionelle Verankerung der nachhaltigen Entwicklung an den Hochschulen bewertet. «Solche Ratings zeigen Verbesserungspotenzial auf und erzeugen in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit für das Thema. Das spornt uns an, uns weiterzuentwickeln.»