Anna-Tina Hess: Ich bin grundsätzlich eine Person, die Entscheidungen nicht bereut. Auch wenn ich bis zur Entscheidung selbst mit mir hadere. Habe ich sie einmal gefällt, trage ich die Konsequenzen. Und das meine ich ganz positiv. Denn ich bin der Überzeugung, dass man so oder so nicht zurückkann und sich deshalb besser gleich mit der neuen Situation, für die man sich ja entschieden hat, anfreundet. Und so ging es mir auch mit der Entscheidung, Klassenlehrerin zu werden.
Die Frage wurde mir bereits beim ersten Vorstellungsgespräch gestellt. Und so verlockend es war und so sehr ich haderte, entschied ich mich schliesslich aus Vernunft dagegen. Solange ich studierte, wollte ich diese zusätzliche Verantwortung nicht auf mich nehmen. Mit Sätzen wie: «Du kannst aber schon mehr Beziehung aufbauen mit der Klasse» oder: «Du hast eigentlich voll das Klassenlehrerinnen-Gen» versuchte mich meine Schulleiterin damals für die Funktion zu gewinnen. Im ersten Jahr des Berufseinstiegs war ich dann aber froh, mich dagegen entschieden zu haben. Ich war froh, nicht noch Standortgespräche führen zu müssen, froh, in Konflikten nicht vermitteln zu müssen, froh, keine schwierigen Entscheidungen treffen zu müssen. Die Sätze meiner Schulleiterin hallen bei mir aber immer wieder nach und ich frage mich auch im Hinblick auf das Ende meines Studiums, wann wohl der Moment kommt, in dem ich mich dann doch dafür entscheide, Klassenlehrperson zu werden. Der Beitrag meines Kolumnenpartners Georg Gindely in diesem Heft hat mich auf jeden Fall alles andere als abgeschreckt – ganz im Gegenteil.
Georg Gindely: Ich habe mich vor etwas mehr als zwei Jahren dazu entschieden, Klassenlehrer zu sein – obwohl mich viele vor dem grossen Aufwand warnten. Zu Recht: Eine Studienkollegin, die ebenfalls Klassenlehrerperson ist, schreibt auf, wie viele Stunden sie für diese Aufgabe aufwendet. 100 Stunden pro Jahr werden im Kanton Zürich dafür bezahlt, im Moment ist sie bei 370 Stunden. Ich zähle nicht, aber es dürfte bei mir ähnlich aussehen (ausser dass im Aargau, wo ich unterrichte, nur 60 Stunden entlöhnt werden). Weshalb tue ich mir das also an? An schlechten Tagen frage ich mich das auch. Dann, wenn wieder einmal einer meiner Schüler so schwierig tut, dass ein Gespräch mit Eltern und Schulleitung nötig ist. Wenn mich andere Lehrpersonen ins Gebet nehmen, weil «meine» Schülerinnen und Schüler Blödsinn gemacht haben. Wenn ich die Schulreise, den Pausenkiosk oder Fördergespräche vorbereiten muss und daneben fast keine Zeit mehr bleibt, meine Leistungsnachweise fürs Studium zu schreiben. Weshalb ich mir das antue? Weil ich seit über zwei Jahren Jugendliche durchs Leben begleite und beobachten kann, wie sie sich entwickeln. Weil sie und ich neben Rückschlägen immer wieder und immer mehr Erfolgserlebnisse verzeichnen können. Weil ich mit ihnen gewachsen bin. Weil ich ihnen nahe bin und sie mir. Nichts gegen Wissensvermittlung, aber den grössten Reiz meines neuen Berufs macht die Beziehungsarbeit aus, und die ist besonders zeitintensiv. Wer sich darauf einlässt, wird reich entlöhnt. Zwar nicht materiell, aber auf andere Weise. Deshalb werde ich im nächsten Sommer erneut eine Klasse übernehmen.