«Schulen erreichen nicht alle Eltern gleich gut»

Eine gute Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule ist ein wichtiger Faktor, wenn es um den Bildungserfolg von Kindern geht. Bruno Leutwyler und Oxana Ivanova-Chessex erläutern die Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt, in dem sie die Sichtweise von gesellschaftlich eher benachteiligten Eltern auf diese Zusammenarbeit untersuchten.

Bruno Leutwyler, Prorektor Forschung & Entwicklung; Oxana Ivanova-Chessex, wissenschaftliche Mitarbeiterin Forschung & Entwicklung. Foto: Christoph Hotz

Warum ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule so wichtig?
Bruno Leutwyler: Gelingt die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule, so die Befunde der Forschung, hat das einen positiven Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder, die Schulqualität und die Bildungsgerechtigkeit. Gesellschaftliche und institutionelle Diskriminierungen wirken sich dann weniger auf den Bildungsweg der Kinder aus. Wir wissen auch, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Schule oft voller Spannungen und in gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse eingebettet ist. Häufig wird deshalb in den Fachdebatten eine «Partnerschaft auf Augenhöhe» gefordert, die aber nicht so einfach realisierbar ist.

Wo genau liegen die Schwierigkeiten?
Bruno Leutwyler: Eine wichtige Erkenntnis aus der Forschung ist, dass Schulen leider nicht alle Eltern gleichermassen gut erreichen und das obwohl für die Eltern – unabhängig von ihren sozialen Positionierungen – schulische Bildung sehr wichtig ist und sie ihr Bestes tun, um ihre Kinder zu unterstützen. Lehrpersonen wiederum investieren viel in die Zusammenarbeit mit Eltern, sind aber auch häufig enttäuscht darüber, dass ihr Engagement bei den Eltern wenig Resonanz findet. Die Schwierigkeit besteht darin, dass institutionelle Logiken, pädagogische Massnahmen und das alltägliche Handeln an Schulen vom gesellschaftlich vorherrschenden Bild der «Normalfamilie» geprägt sind. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist aber deutlich vielfältiger. Für Eltern, die diesem Bild nicht entsprechen, wird die Schule häufig zu einer Herausforderung. Sie können als «desinteressiert», «schwer erreichbar», «bildungsfern» oder als «auffällig anders» wahrgenommen bzw. angesprochen und subtil oder offen ausgeschlossen werden. Diese Ansprachen schränken wiederum gravierend elterliche Handlungsspielräume im Schulkontext ein – sie wirken positionierend.

Was genau haben Sie im Forschungsprojekt untersucht?
Oxana Ivanova-Chessex: In unserem Projekt «Eltern und Schule im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse» haben wir uns mit der Elternperspektive auf die Schule beschäftigt. Zusammen mit unseren Kolleginnen Lalitha Chamakalayil (HSA FHNW) und Wiebke Scharathow (PH Freiburg) haben wir uns mit den Lebensgeschichten von Eltern auseinandergesetzt, insbesondere von Eltern, die nicht in das an Schulen wirksame Bild der «Normalfamilie» passen. Zu diesem Zweck haben wir 21 Interviews mit Müttern und Vätern zu ihren eigenen Biografien geführt und diese analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Eltern kontinuierlich in einem Aushandlungsprozess mit der Institution Schule befinden, auch dann, wenn sie als desinteressiert oder schwer erreichbar wahrgenommen werden. Ihre Handlungsmöglichkeiten werden dabei durch ihre Lebens- und Bildungserfahrungen und durch ihre komplexen Positionierungen in gesellschaftlichen Machtverhältnissen beeinflusst. Für viele Familien ist Schule mit Risiken rassistischer, klassistischer, ableistischer und/oder heteronormativer Adressierungen verbunden. Trotz der offensichtlichen Bemühungen der Lehrpersonen fühlen sich nicht alle Eltern gleichermassen angesprochen und in ihren spezifischen Anliegen wahr- und ernstgenommen. So suchen sie selbst vielfältige Wege, um ihre Wünsche in Bezug auf die Bildung ihrer Kinder zu verwirklichen. Beispielsweise holen sie gesellschaftlich anerkanntere Personen zur Hilfe, schaffen alternative Bildungsangebote oder setzen ihre biografisch erkämpften Privilegien ein. Diese Vorgehensweisen der Eltern mögen zwar zu punktuellen Lösungen für einzelne Familien führen, die grundsätzlichen Verhältnisse, die zu Bildungsbenachteiligung führen, bleiben jedoch unangetastet.

Der Blick auf die Biografie der Eltern ist also wichtig?
Oxana Ivanova-Chessex: Indem wir die Lebensgeschichten der Eltern betrachten, können wir besser verstehen, wie Machtverhältnisse ihr Handeln generationenübergreifend beeinflussen. Eine Mutter erzählte uns zum Beispiel, wie sie über Bildung den sozialen Aufstieg ihrer Familie erreichen möchte. Ihr selbst war der Zugang zu höheren Bildungsgängen und einem Studium zunächst verstellt. Erst nach Kämpfen und Auseinandersetzungen mit ihrer Familie und ihrem damaligen Partner konnte sie die angestrebten Bildungsabschlüsse erreichen. Ihr Auftreten als Akademikerin und Schweizerin ermöglicht es ihr, im Kontext Schule mitzusprechen, miteinbezogen zu werden und bestmögliche schulische Bedingungen für ihren Sohn durchzusetzen, welcher mit einer Diagnose auf dem Autismusspektrum integrativ beschult wird. Sie nutzt ihren hart erarbeiteten Status, um als eloquente, engagierte Mutter und Akademikerin der Schule auf Augenhöhe zu begegnen und den Machtstrukturen im Kontext von Schule etwas entgegenzusetzen. Gleichzeitig zeigt sich im Gespräch aber auch, wie fragil dieses «Aufstiegsvorhaben» ist: Der erkämpfte Bildungsaufstieg ihrer Kinder droht zu scheitern und ihr Handeln als «eine gute Mutter» muss wiederholt verteidigt werden, da sich die Schule an einer Norm orientiert, der die Familie nicht ganz entspricht.

Wie können Lehrpersonen Eltern erreichen, die sie als desinteressiert und schwer erreichbar wahrnehmen?
Oxana Ivanova-Chessex: Damit die Zusammenarbeit noch besser gelingt, hilft es, Strukturen, Prozesse und Mechanismen kritisch zu hinterfragen, die bestimmte Eltern erst «desinteressiert» und «schwer erreichbar» erscheinen lassen. Eine kritische Beobachtung und ein Hinterfragen der eigenen (machtvollen) Position und Rolle bei der Reproduktion von Ungleichheiten in der Schule ist notwendig. Welche Normen und Bilder bestimmen unser Denken und Handeln und was bedeutet das für diejenigen, die wir als davon abweichend wahrnehmen? Wir brauchen aber auch strukturelle Veränderungen, die Räume für diese Reflexion ermöglichen.

Es geht aber auch um strukturelle Veränderungen?
Bruno Leutwyler: Ja, wir sollten uns in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung systematisch mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Machtverhältnissen beschäftigen, welche Schule insgesamt und die Zusammenarbeit mit Eltern vorstrukturieren. Wichtig sind auch Massnahmen, die sich gegen diskriminierende Strukturen richten und Privilegien und Benachteiligungen an (Hoch-)Schulen thematisieren. Es würde um eine Neugestaltung eines gemeinsamen Bildungsraums gehen, in dem sich niemand erst als «anders» verorten muss, um am Bildungsgeschehen teilzuhaben.

Das Projekt «Eltern und Schule im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse – eine subjektivierungs- und biografietheoretisch orientierte Studie» der PH Zürich wurde vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert.