Prüfungsresultate bilden nur einen Teil der erworbenen Kompetenzen ab. Um eine Gesamtschau zu erhalten, hat Mittelstufenlehrerin Katrin Meier selber ein differenziertes System für die Beurteilung ausgearbeitet. Ein Augenschein im Schulhaus Hirschengraben.
Für den Quintal zwischen Frühlings- und Sommerferien hat sich Lia* vorgenommen, das Rechnen mit Brüchen zu lernen. So steht es in ihrem Lerntagebuch. «Der Test hat gezeigt, dass ich noch Lücken habe», sagt die Fünftklässlerin. «Deshalb löse ich nun Vertiefungsaufgaben.» Im Standortgespräch mit ihrer Lehrerin hat sie sich Anfang Juni zum Ziel gesetzt, dieses Thema bis zu den Sommerferien abzuschliessen. Gleichzeitig will sie sich mit Gedichten auseinandersetzen. «Ich finde es cool, dass wir ein Stück weit selber wählen können, woran wir arbeiten», erklärt das Mädchen aus dem Zürcher Schulhaus Hirschengraben. «So gibt es viel Abwechslung und die Schule verleidet uns nicht.»
In der altersdurchmischten Mittelstufenklasse von Katrin Meier spielt das Lerntagebuch eine wichtige Rolle. Mit Unterstützung der Lehrerin planen die Schülerinnen und Schüler für jeden Quintal sowie Woche für Woche, woran sie arbeiten wollen. Am Ende schätzen sie ihre Leistung mit einem Smiley ein, neben das die Lehrerin ebenfalls einen gelben Kleber setzt. Häufig fällt das Fremdbeurteilungs-Gesicht eine Stufe fröhlicher aus als jenes der Selbstbeurteilung. Lia zum Beispiel hat sich beim Aspekt «mehr mitmachen» lediglich einen geraden Mund hingeklebt, während das Smiley ihrer Lehrerin lacht. Meier ermutigt die Schülerinnen und Schüler zudem regelmässig mit Kommentaren wie: «Deine Gedanken zum Thema Glück gefallen mir sehr gut.» Oder auch: «Ich weiss, Dividieren ist schwierig. Ich finde es deshalb erst recht grossartig, dass du dranbleibst und immer weiter übst. Du schaffst das!»
In den 30 Jahren, in denen Katrin Meier unterrichtet, hat sie sich ein spezielles, ausgeklügeltes System für die Beurteilung ausgedacht. «Ich habe mich nie mit Noten anfreunden können», sagt die Primarlehrerin. «Sie sagen wenig aus und werden den Kindern teilweise nicht gerecht.» So erfahre man bei einer Fünf in Mathematik zum Beispiel nicht, ob eine Schülerin gut kopfrechnen oder genaue geometrische Zeichnungen anfertigen kann. Derweil könne eine Vier im Deutsch heissen, dass ein Schüler viele Rechtschreibefehler macht, sich hingegen mündlich differenziert ausdrücken kann – oder umgekehrt. Wichtig ist der Lehrerin vor allem, dass die Kinder wissen, wo sie stehen und Eigenverantwortung übernehmen. Zu jedem Thema hat Katrin Meier die Lernziele auf selbst gestalteten Arbeitsblättern detailliert ausformuliert inklusive Felder für eine Selbst- und Fremdbeurteilung nach der Bearbeitung. Zudem beschreiben die Schülerinnen und Schüler ihre Lernerfahrungen nach Abschluss des Themas stets mit eigenen Worten in einem Rückblick. Zum schriftlichen Bruchrechnen bemerkte ein Mädchen zum Beispiel: «Dieses Thema war manchmal total einfach und manchmal total schwierig. Ich muss unbedingt alles schön aufschreiben, damit ich keine Flüchtigkeitsfehler mache.»
Meiers selbst kreiertes Beurteilungssystem setzt sich aus zahlreichen Mosaiksteinen zusammen. Neben den Erfahrungen aus den Standortgesprächen und dem Führen der Lerntagebücher fliessen stetig Beobachtungen aus dem mündlichen Unterricht, zum allgemeinen Verhalten sowie den Lernstrategien der Kinder mit ein. Natürlich spielen auch Produkte wie Zeichnungen, Präsentationen für einen Vortrag, Protokolle sowie Lernkontrollen eine Rolle. So greifen formative und summative Kriterien nahtlos ineinander hinein. Die Beurteilung erfolgt während des Jahres hauptsächlich aufgrund individueller Fortschritte.
Viel Aufwand für mehr Aussagekraft
In vielen Unterrichtssequenzen führt Meier eine Liste, in der sie Wortmeldungen einträgt. So zum Beispiel an diesem Morgen im Juni, als eine Sechstklässlerin Gedichte vorträgt, die sie selbst geschrieben und schön gestaltet hat, und ein Viertklässler ein Buch vorstellt. Nach den beiden Referaten hat die Klasse Gelegenheit, Feedback zu geben. «Du hast gut vorgetragen», meldet ein Mädchen seinem Kollegen zurück. «Schade war nur, dass du meist vor dem Plakat gestanden bist und dich oft danach umgedreht hast.» Ein weiteres Kind pflichtet ihr bei und ergänzt: «Du hättest Kärtchen mit Stichworten machen können.» Meier macht sich Notizen zu jeder Äusserung – etwa ob die Kinder lediglich bereits Gesagtes wiederholen oder neue Aspekte einbringen.
«Ja, das System ist mit viel Aufwand verbunden», räumt die Lehrerin ein. «Doch die Beurteilung bereitet mir heute nicht mehr so viel Bauchweh wie früher.» Zuweilen sei sie unsicher gewesen, ob es für die Kinder kein Stress sei, stets unter Beobachtung zu stehen. Nach mehreren Klassengesprächen ist sie aber überzeugt, dass dies viel weniger stark der Fall ist, als wenn die Beurteilung hauptsächlich anhand der Prüfung stattfinden würde. Dass sie mit ihrem 100-Prozent-Pensum die Hauptverantwortung für die Einschätzung der 27 Kinder hat, habe Vor- und Nachteile, erklärt die 53-Jährige. Einerseits sei es organisatorisch einfacher, anderseits würden mehrere Blickwinkel manchmal bestimmt nicht schaden. Natürlich bringen aber auch die Fachlehrpersonen ihre Beobachtungen mit ein.
Kinder erleben Beurteilung als transparent
Noten gibt es in den Mittelstufenklassen des Schulhauses Hirschengraben nur im Zeugnis. «Gegenüber einigen Eltern mussten wir unser System verteidigen», erzählt Katrin Meier. Das Schulhaus in der Zürcher Altstadt wird von zahlreichen Kindern aus bildungsnahen Familien besucht. Unterdessen scheint der Effort der Lehrpersonen aber Früchte zu tragen: Letztes Jahr hat eine Umfrage ergeben, dass die Kinder die Beurteilung grösstenteils als transparent erleben und ihre Zeugnisnote den Erwartungen entsprach. Derweil antworteten die Eltern, dass sie die Rückmeldungen der Lehrpersonen meist als konstruktiv, unterstützend und nachvollziehbar wahrnehmen. Viele positive Rückmeldungen vonseiten der Eltern erhielt Katrin Meier auch im Sommer 2020. Weil es wegen des Fernlernens keine Zeugnisnoten gab, hatte sie entschieden, stattdessen Lernberichte zu schreiben. Mehrere Eltern drückten ihre Freude über die differenzierte und motivierende Einschätzung der Leistung ihrer Kinder aus. Dies bestätigte sie in ihrer Ansicht, dass alternative Beurteilungen auf Akzeptanz stossen.
PH Zürich bietet Weiterbildung an
Katrin Meier engagiert sich seit vielen Jahren in der Bildungspolitik, unter anderem im Personalverband VPOD. Im Rahmen des Projekts «Einführung Lehrplan 21» des Volksschulamtes des Kantons Zürich wirkte sie in der Arbeitsgruppe Beurteilung mit. Sie schaute Systeme aus verschiedenen Ländern an und verglich Zeugnisse. Dabei stiess sie auf diverse Beispiele, die ihrer Ansicht nach das Können einzelner Schülerinnen und Schüler besser abbilden als Noten und dabei den Lernzuwachs und die Kompetenzentwicklung aufzeigen.
Letztes Jahr hat Katrin Meier zudem an der PH Zürich die Weiterbildung Tangram besucht, die sich der Beurteilungspraxis im kompetenzorientierten Unterricht des Lehrplans 21 widmet. Der Name Tangram stammt vom chinesischen Legespiel, mit dessen Drei- und Vierecken sich unzählige Bilder zusammensetzen lassen. Die Metapher steht für das breite und ganzheitliche Repertoire im kompetenzorientierten Beurteilungsprozess. Katrin Meier fand vor allem die wissenschaftlichen Hintergründe sowie den Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen sehr bereichernd. «Dadurch habe ich zu mehr Sicherheit und Gelassenheit im Umgang mit der Beurteilung gefunden.»
Selbstständigkeit fördern
Dass die beiden Mittelstufenklassen im Schulhaus Hirschengraben altersdurchmischt geführt werden, hatte ursprünglich organisatorische Gründe. Das ganze Team sei aber überzeugt von den didaktischen und pädagogischen Vorteilen, sagt Meier. Bei der riesigen Spanne zwischen Viert- und Sechstklasskindern – zum Teil mit bereits bestandener Gymiprüfung – versteht sich von selbst, dass das selbstorganisierte Lernen einen grossen Stellenwert einnimmt. Der Frontalunterricht beschränkt sich auf gelegentliche kurze Inputs.
In dieser Doppelstunde im Juni arbeiten sämtliche Schülerinnen und Schüler an ganz verschiedenen Aufgaben: Während ein Kind in einem Lückentext Nomen in die treffenden Fälle setzt, übt ein anderes das schriftliche Mal-Rechnen, ein weiteres konstruiert mit Zirkel und Transporteur verschieden grosse Winkel und drei Jungen suchen einen Schluss für ihren Krimi, den sie zusammen schreiben. Kaum ein Kind ist untätig oder verbreitet Unruhe. Wer eine Pause braucht, darf das Zimmer kurz verlassen oder sich auch mal mit einem Mickymaus-Heft aufs Sofa setzen. Katrin Meier sitzt vorne am Pult und widmet sich geduldig einem Kind nach dem anderen. Sie stehen in der Schlange, weil sie eine Frage haben oder eine fertige Aufgabe zeigen wollen.
Heute hat auch Luca ein Standortgespräch. Während die anderen Kinder selbstständig lernen, nimmt der Fünftklässler vorne am Tisch Platz. Eines seiner Quintalsziele war, an seiner Handschrift zu feilen. Nun betrachtet er mit der Lehrerin sein Schreibheft. Von der Darstellung seines letzten Aufsatzes ist der Schüler selber nicht ganz begeistert, wie er zu erkennen gibt. Katrin Meier blättert ein paar Seiten zurück und fordert Luca auf, die Schriften der verschiedenen Texte zu vergleichen. «Du kannst sehr schön schreiben, wenn du willst», stellt sie fest und ermutigt ihn, dies öfters zu versuchen. Ein weiteres Gesprächsthema ist Lucas zuweilen schlechte Laune. «Was können wir tun, damit sich deine Stimmung bessert?» Ein Spiel würde ihm wahrscheinlich helfen, sich zum Lernen zu motivieren, schlägt der Junge vor. «Probieren wir es aus», sagt Katrin Meier und hält den Plan im Lerntagebuch fest. Nach vier bis fünf Wochen wird sie wieder mit Luca zusammensitzen und besprechen, wie gut die Strategie ihr Ziel erreicht hat.
* Namen der Kinder geändert