Lehrpersonen können nur Kompetenzen beurteilen, die Kinder auch zeigen können. Deshalb sollten sie ihre Beurteilung auf verschiedene Eindrücke aus vielfältigen Beurteilungssituationen abstützen, statt ausschliesslich auf standardisierte Prüfungsformate zu setzen. Das führt zu einer angemessenen Einschätzung und dient dem Lernen der Schülerinnen und Schüler.
Mit der Kompetenzorientierung hat das Beurteilen nach altem Muster ausgedient. Am Ende einer Unterrichtssequenz mit einer schriftlichen Prüfung Sachwissen abfragen – das wird einem Unterricht nicht gerecht, der den Erwerb von Kompetenzen ins Zentrum stellt. «Mit Stift und Papier können Schülerinnen und Schüler nur einen Teil der Kompetenzen zeigen, die sie im Unterricht aufbauen», erklärt Urs Bisang, Dozent für Natur, Mensch, Gesellschaft an der PH Zürich. In den Sprachfächern etwa gehören nebst dem Schreiben und Lesen auch mündliche Kompetenzen und das Hörverständnis zum Unterricht – und müssen folglich beim Beurteilen einbezogen werden.
«Beim kompetenzorientierten Beurteilen plant die Lehrperson im Unterricht vielseitige Beurteilungsanlässe ein», sagt Bisang. So können die Kinder handelnd vielseitige Kompetenzen zeigen, damit die Lehrperson sie in ihrem Lernprozess wahrnehmen und adaptiv unterstützen kann. Wichtig sei dabei, dass die Lehrperson wirklich beurteile, worum es in einem Fach geht. Also dass Lernziele, Unterricht und Beurteilung miteinander im Einklang seien. Bisang greift als Beispiel eine Kompetenzbeschreibung für das Fach Natur, Mensch, Gesellschaft im ersten und zweiten Zyklus heraus: «Die Schülerinnen und Schüler können Tiere und Pflanzen in ihren Lebensräumen erkunden und dokumentieren sowie das Zusammenwirken beschreiben.» Diese Ziele kann die Lehrperson nicht in einer Testsituation im Schulzimmer überprüfen. Vielmehr muss sie die Handlungen der Kinder im Lebensraum der Tiere beobachten. Dabei hat sie klare Kriterien: Weiss ein Kind, wo man welche Tiere findet? Kann es die Tiere einfangen und sie bestimmen? Wie wendet es Untersuchungsmöglichkeiten an, um die Vorlieben der Tiere herauszufinden?
Vorbild Kindergarten
In gewissen Fächern ist die kompetenzorientierte Beurteilung traditionell stärker verankert. Im Textilen und Technischen Gestalten oder im Sportunterricht ist es üblich, Handlungen und Produkte von Handlungen zu beurteilen. Eine schriftliche Aufgabenstellung, wie eine Vorwärtsrolle oder das Zusammenspiel beim Fussball funktioniert, wäre undenkbar. Doch auch in Mathematik, Geschichte oder Chemie kann eine Lehrperson gewisse Kompetenzen nicht anhand von schriftlichen Aufgaben beurteilen: Wie ein Kind einem anderen einen Rechenschritt erklärt, wie es ein Interview mit Zeitzeugen führt oder wie es beim Experimentieren vorgeht, ob es das Vorgehen gut plant, plausible Vermutungen aufstellt, aus den Beobachtungen richtige Schlussfolgerungen zieht. In all diesen Handlungen kann es fachrelevante Kompetenzen zeigen, die mit ausschliesslich schriftlichen Aufgabenstellungen nicht erfasst werden können.
Als gutes Vorbild für kompetenzorientiertes Beurteilen nennt Bisang den Unterricht im Kindergarten. Hier ist die Lehrperson im täglichen Austausch mit den Kindern und damit nahe am Lernen der Kinder dran. Weil diese noch nicht lesen und schreiben können, braucht es alternative Formen zur Überprüfung der Zielerreichung. So betrachtet die Lehrperson entstandene Produkte und beobachtet Handlungen der Kinder in alltagsnahen Lernsituationen. Beispielsweise spielt sie beim «Feuerwehrspielen» mit und stellt dabei gezielt Fragen, um das Verständnis der Kinder einzuschätzen: Wissen die Kinder, welche Nummer sie wählen müssen, was sie am Telefon sagen sollen und wie ein Feuer gelöscht werden kann? Dabei gibt es keine scharfe Trennung zwischen Lern- und Leistungssituation.
Der Einbezug von Lern- und Leistungssituationen für die Beurteilung wird auf höheren Stufen zum Teil kritisch betrachtet. Ein Einwand lautet, dass es dem Lernklima schade, wenn Schülerinnen und Schüler bereits in der Übungsphase laufend bewertet würden und nicht nur in eindeutigen Prüfungssituationen. «Wenn die Lehrperson eine klare Förderhaltung vertritt, ist dies jedoch kein Problem», sagt Bisang. Zudem sei es wichtig, dass die Lehrperson den jeweiligen Kontext beachtet und die Funktionen der Beurteilung auseinanderhält: die formative Beurteilung, die dem weiteren Lernen dient, von der summativen, einordnenden Beurteilung unterscheidet. Allerdings hätten klare Leistungssituationen auch auf unteren Stufen ihre Berechtigung, vergleichbar mit einer Vortragsübung: «Im besten Fall ist eine Prüfung ein Anlass, auf den man gemeinsam hinarbeitet und wo man das Gelernte mit Freude zeigen kann.»
Keine errechneten Beurteilungen
Der Grundsatz, dass Lehrpersonen ihre Beurteilung auf möglichst vielseitige Beobachtungen und Beurteilungsanlässe abstützen sollten, gilt für sämtliche Stufen gleichermassen. Auf höheren Stufen, insbesondere vor Übertritten, greifen Lehrpersonen jedoch häufiger auf standardisierte Prüfungssituationen zurück, was auch mit der Angst vor schwierigen Elterngesprächen zu tun hat. Diese beobachtet Marcel Naas, Bereichsleiter Bildung und Erziehung der Sekundarstufe I, auch bei seinen Studentinnen und Studenten: «Die Studierenden haben zum Teil das Gefühl, dass nur schriftliche Tests beweisen, dass ihre Noten nicht aus einem Bauchgefühl heraus entstanden sind.» Selbstverständlich müssten Lehrpersonen sehr gut belegen können, wie die Verdichtung zu einer Note zustande komme, so Naas. Dies könnten sie jedoch auch mit anderen Formen der Beurteilung aufzeigen. Wenn beispielsweise ein Werbevideo auf Französisch aufgenommen wurde, kann die Lehrperson beim Elterngespräch auch anhand dieses Videos und einem Kriterienraster aufzeigen, wie sie beurteilt hat. Die Kreuze auf dem Kriterienraster stimmen überein mit dem Eindruck, den die Tochter im Video hinterlässt: dass sie eine sehr gute Aussprache hat, aber immer wieder die gleichen Wörter verwendet oder Sätze nicht zu Ende bringt.
Nur scheinbar genau und objektiv sei es auch, wenn Lehrpersonen Prüfungen auf zwei Nachkommastellen genau benoten und aus den Prüfungsnoten am Ende des Semesters die Zeugnisnote berechnen. Denn ein errechneter Durchschnitt gibt nicht den aktuellen Lernstand wieder und kann deshalb die bilanzierende Gesamteinschätzung durch die Lehrperson nicht ersetzen. Auch zeigt der exakteste Notenwert nicht auf, wie die Lehrperson beurteilt hat. Zudem bieten Noten alleine den Schülerinnen und Schülern kein hilfreiches Feedback für ihr weiteres Lernen. Wichtig ist, dass Lehrpersonen auch mit gehaltvolleren Beurteilungsformen arbeiten: mit schriftlichen oder mündlichen Rückmeldungen, Reflexionen in Lernjournalen sowie Selbst- und Peerbeurteilungen.
«Es braucht Mut und Selbstvertrauen, vielseitige Beurteilungsanlässe im Unterricht einzuplanen und bei der Gesamteinschätzung nicht nur auf Noten von schriftlichen Prüfungen zu vertrauen, sondern auch auf protokollierte Beobachtungen und kriterienbezogene Einschätzungen, die sich durch die eigene professionelle Expertise legitimieren», sagt Naas.
Er plädiert dafür, dass Lehrpersonen davon wegkommen, immer alles bei allen Schülerinnen und Schülern zum gleichen Zeitpunkt zu überprüfen. So kann die Lehrperson die Kompetenz «Texte bewusst gestalten und inszenieren können» im Fach Englisch beispielsweise bei einem Teil der Klasse anhand einer Slam-Poetry-Darstellung beurteilen und bei einem anderen Teil anhand einer einstudierten Theaterszene. Oder sie kann die Schülerinnen und Schüler einmal selbst bestimmen lassen, welche Einträge in einem Lernjournal sie beurteilen soll, da sie die Kompetenzen auch anhand eines Ausschnitts beurteilen kann. «Zentral ist, dass Lernziele und Kriterien der Beurteilung von Anfang an transparent kommuniziert werden», sagt Naas.
Der Vorteil von Noten
Im Kanton Zürich müssen Lehrpersonen während des Semesters keine Noten geben. Nur im Zeugnis sind sie dazu verpflichtet. Das eröffnet einen Spielraum, den viele Lehrpersonen zur Gestaltung einer kompetenzorientierten Beurteilungspraxis nutzen. Doch weshalb braucht es überhaupt Noten? Würden Alternativen wie Wortbeurteilungen oder ein Katalog der erreichten Kompetenzen als Zeugnis die Leistung nicht adäquater erfassen? Hier lohnt es sich, die gesellschaftliche Funktion von Zeugnissen in Erinnerung zu rufen. Als Schulzeugnisse mit der Volksschule eingeführt wurden, dienten sie noch als Beweismittel: Das Zeugnis belegte, dass die Schulpflicht eingehalten wurde und ein Kind nicht etwa in einer Fabrik oder zuhause arbeitete. Heute dagegen dient das Zeugnis als Leistungsspiegel. Es soll die Leistung eines Kindes gegen aussen kommunizierbar und vergleichbar machen. Und zwar möglichst einfach und verständlich. Dabei ist die Komplexitätsreduktion durch Noten gerade ein Vorteil. Denn wenn Zeugnisse nicht mehr leicht vergleichbar sind, suchen abnehmende Institutionen andere Wege der Komplexitätsreduktion. Heute verlangen Lehrbetriebe zum Teil externe, standardisierte Testresultate von Bewerbenden, weil die Zeugnisnoten auf der Sekundarstufe I nicht mehr so leicht vergleichbar sind, wenn Gemeinden etwa mit verschiedenen Stufen- und Niveaumodellen arbeiten. Beispielsweise ist die Note eines Niveau-B-Schülers aus einer Schule mit Niveaus A, B und C nicht so leicht vergleichbar mit der Note einer Niveau-B-Schülerin aus einer Schule, die nur die Niveaus A und B kennt.
Die standardisierten Tests, die dann zum Einsatz kommen, können die Kompetenzen der Jugendlichen jedoch nicht so gut einschätzen, wie dies eine Lehrperson kann, die ihre Schülerinnen und Schüler über eine lange Zeit beim Lernen begleitet hat. Würde man nun die Noten im Zeugnis durch komplexere Beurteilungsformen wie Wortbeurteilungen ersetzen, wäre der Vergleich für abnehmende Institutionen noch schwieriger. Und dies könnte den Einsatz von externen, standardisierten Tests fördern.
Keine Gewinner und Verlierer
Auch wenn Noten hilfreich sind zur Vergleichbarkeit der Leistungen, werden damit letztlich alle Schülerinnen und Schüler auf eine gesellschaftliche Norm hin beurteilt, die die persönliche Leistungsentwicklung nur bedingt abbildet. Karin Zopfi, Bereichsleiterin für Bildung und Erziehung der Primarstufe, spricht von einem schwierigen Spagat zwischen Selektion und Förderung, den Lehrpersonen zu meistern haben. «Wichtig ist dabei, dass Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler nicht auf Noten reduzieren und in Gewinner und Verlierer einteilen», so Zopfi. Dies geschieht etwa, wenn die Lehrperson den Notendurchschnitt der Klasse vorliest oder die Prüfungen nach Noten in absteigender Reihenfolge verteilt.
Stattdessen gelte es im Unterricht auch mit individuellen Bezugsnormen zu arbeiten, Schülerinnen und Schüler also nicht mit anderen, sondern mit sich selbst zu vergleichen, um die Entwicklung eines Kindes sichtbar zu machen. Konkret bedeutet dies, dass die Lehrperson mit jedem Kind einzelne Arbeiten rückblickend anschaut, mit aktuellen Ergebnissen vergleicht und daran gemachte Fortschritte aufzeigt. «So kann jedes Kind Stolz und Mut schöpfen», sagt Zopfi. Auch Portfolios, in denen das Kind Arbeiten aufbewahrt, die ihm besonders glückten oder ein Aha-Erlebnis bereiteten, können das individuelle Lernen anhand von Ergebnissen sichtbar machen und dadurch motivationsfördernd wirken.
Zudem kann die Lehrperson individuelle Lernziele schon von Beginn an mit der Sachnorm im Zeugnis verbinden. Sie setzt dafür gemeinsam mit dem Kind ein realistisches Lernziel und zeigt dabei gleich auf, welche Zeugnisnote mit diesem Ziel verbunden ist. So ist das Kind am Ende nicht frustriert, wenn es trotz grosser Anstrengung und eigener Fortschritte im Zeugnis «nur» eine Vier erhält.
In der Ausbildung an der PH Zürich lernen die angehenden Lehrpersonen nicht nur, wie sie kriteriengeleitet beurteilen, gute Beurteilungsanlässe schaffen und diese von Beginn an in ihren Unterricht einplanen. Zentral ist auch die Reflexion der eigenen Erfahrungen mit Beurteilungen und Noten. «Viele Lehrpersonen haben in ihrer Schulzeit vorwiegend positive Rückmeldungen erhalten», sagt Zopfi. Doch sei es wichtig, dass Lehrpersonen verstehen, was schlechte Beurteilungen bewirken können. «Lehrpersonen sollten gerade auf den unteren Stufen sehr sorgfältig mit Noten umgehen, auch wenn die Notengebung hier noch weniger Gewicht hat», sagt Zopfi. Denn die ersten Schuljahre seien zentral für den Aufbau eines positiven schulischen Selbstbilds.
Beurteilung als Teamaufgabe
Ob Lehrpersonen ihre erlernte Beurteilungspraxis beim Berufseinstieg umsetzen können, ist stark von der Haltung ihrer Kollegen und Kolleginnen abhängig. Wird in einem Schulhaus primär mit benoteten Prüfungen gearbeitet, braucht es viel Selbstvertrauen, als Berufseinsteigerin während des Semesters keine Noten zu erteilen und die Zeugnisnoten auf vielfältigere Beurteilungsanlässe abzustützen. «Wir empfehlen den Studierenden deshalb, bei Bewerbungen auch nach der Beurteilungskultur an einer Schule zu fragen», sagt Zopfi.
Während junge Lehrpersonen gute Inputs zum kompetenzorientierten Beurteilen beisteuern können, profitieren sie umgekehrt vom Erfahrungsschatz erfahrenerer Lehrpersonen im Team. Denn gute Beurteilungsanlässe zu gestalten, die für alle Schülerinnen und Schüler genügend herausfordernd, aber nicht überfordernd sind, ist äusserst anspruchsvoll.
«Schulteams sollten die Beurteilung als gemeinsame Aufgabe betrachten und Ideen austauschen», sagt Zopfi. Beispielsweise könnten pädagogische Teams ihre Beurteilungsanlässe zusammen planen und eine gemeinsame Praxis für die Zusammenarbeit mit Eltern finden. Dies ist insbesondere dann hilfreich, wenn mehrere Kinder aus der gleichen Familie in einer Schule sind.
Mit schulinternen Weiterbildungen unterstützt die PH Zürich Schulen darin, gemeinsame Standards für die Beurteilungspraxis zu finden. «Zu Beginn taucht in diesen Weiterbildungen oft der Wunsch nach einfachen Rezepten für die Beurteilung auf», sagt Susanne Leibundgut, die an der PH Zürich im Weiterbildungszentrum Unterricht und Lernen tätig ist. In den Diskussionen würde den Teilnehmenden jedoch sehr schnell bewusst, dass jede Lehrperson ihre eigene Beurteilungspraxis finden muss. Denn letztlich muss die Beurteilung zum Unterricht passen. Und dieser ist von Lehrperson zu Lehrperson verschieden.
Neben den schulinternen Weiterbildungen bietet die PH Zürich auch Angebote für Einzelpersonen zum kompetenzorientierten Beurteilen an. «Oft wissen die Teilnehmenden schon, wie man kompetenzorientiert beurteilt», sagt Leibundgut. Doch geeignete Beurteilungssettings für den eigenen Unterricht zusammenzustellen, sei sehr anspruchsvoll und zeitaufwendig.
Im neuen Weiterbildungsmodul «Tangram» der PH Zürich beispielsweise lernen die Teilnehmenden verschiedene Beurteilungsmöglichkeiten kennen und arbeiten anschliessend mit einem sogenannten Beurteilungskreislauf an einem konkreten Unterrichtsprojekt. Bei diesem Kreislauf wird der Unterricht rückwärts geplant, das heisst, die Lehrperson legt dafür zuerst Kernthemen und die Kompetenzen fest, die sie fördern will, und plant dann die Beurteilungssettings gemeinsam mit dem Unterricht. Wenn die Beurteilungsanlässe schon von Beginn an eingeplant sind und der Unterricht darauf aufbaut, kann die Beurteilung nicht am Lernen im Unterricht vorbeizielen.
Gemäss Leibundgut sind die Weiterbildungen zum kompetenzorientierten Beurteilen sehr gefragt. Zwar ist eine gute Beurteilungspraxis an den Schulen schon länger ein Thema, doch der Lehrplan 21 hätte hier noch einmal Schub gegeben, so Leibundgut. Sie sagt auch: «Viele Schulen arbeiten aktuell am Thema kompetenzorientierte Beurteilung. Sie reflektieren ihre Praxis und suchen eine gemeinsame Haltung im Team. Die Lehrpersonen sind dabei sehr engagiert und auf einem guten Weg.»