«Die Zeit der grossen Verrisse in der Presse ist vorbei»

Der Gastrokritiker Wolfgang Fassbender beurteilt seit 30 Jahren Restaurants in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und der ganzen Welt. In dieser Zeit hat er viele Trends kommen und gehen sehen. Einige davon sind gut, andere weniger. Doch was heisst das eigentlich: gut?

Foto: Nelly Rodriguez

Was ist ein gutes Restaurant?
Eines, in dem man sich wohlfühlt.

Ist das nicht ein sehr subjektives Kriterium?
Natürlich ist die Wahrnehmung sehr individuell. Nehmen wir etwa dieses Kaffeehaus, in dem wir uns gerade befinden, mit einer sehr puristischen Einrichtung, die auf das Wesentliche verweist: den Kaffee. Vor zwanzig Jahren wäre niemand hier in Zürich hergekommen. Da tickte die Gastronomie noch viel traditioneller. Heute schätzen viele Leute das internationale Flair. Aber klar, letztendlich geht es um das wichtigste Kriterium: das Produkt.

Nach welchen Kriterien beurteilen Sie Restaurants?
Es gibt das, was ich «grosse Kriterien» nenne. Wichtig sind, neben der Qualität der Produkte und der Zubereitung, auch der Service, die Weinkarte, das Ambiente – und immer häufiger auch für die Restaurantführer: das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wobei das im Prinzip für meine Einschätzung keine Rolle spielt, wohl aber für die Endkonsumenten.

Gibt es neben den «grossen Kriterien» auch kleine? In der Schule kann es vorkommen, dass auf den ersten Blick unwichtige Kriterien in die Beurteilung einfliessen. Wenn etwa bei einem Vortrag beurteilt wird, ob das Kind den Titel schön an die Tafel geschrieben hat. Gilt das auch für einen Restauranttester? Dass er beispielsweise die Schreibfehler auf der Menükarte übersehen muss?
Natürlich. Die Kreativität der Küche, die Saisonalität, die Handschrift des Küchenchefs. Letztlich kann auch die Gestaltung des Menus eine Rolle spielen – oder die Anzahl an Rechtschreibfehlern. Aber alles verblasst schnell, wenn das Essen gut ist.

Gibt es «Killerkriterien», mit denen ein Restaurant gleich durchfällt?
Wenn mir statt frischen Kaisergranats billige Tiefkühl-Riesengarnelen serviert werden, ist das Betrug.

Wie stark hängt die Beurteilung vom persönlichen Geschmack des Testers ab?
Jeder Tester hat einen anderen Ansatz. Aber je länger man in der Branche arbeitet, je mehr man professionell isst, desto mehr nähert man sich dem Objektiven an. Finesse, Komplexität, Balance sind wichtige Gesichtspunkte.

Können Sie das genauer erklären?
Ich vergleiche meinen Ansatz gern mit Weindegustationen. Sowohl beim Essen wie beim Wein suche ich Komplexität, Länge respektive Nachhall, Balance, Struktur und Individualität. Beim Essen ist das ähnlich. Ein Hamburger bei einer Schnellimbisskette hat weder Dichte noch Länge, der schmeckt vage süss-salzig und ist, einmal geschluckt, schnell weg. Ähnliches gibt es auch im sogenannten Gourmetrestaurant: Langweilige, fade, eindimensionale Speisen.

Klingt nach einem Verriss.
Ich würde mal behaupten, die Zeit der grossen Verrisse der Restaurantkritik in der Presse ist vorbei. Sie sind aus der Mode gekommen. Neben bekannten Gründen wie etwa der generellen Krise gedruckter Medien liegt das auch daran, dass nur noch wenige Zeitungen oder Guides ein adäquates Budget für Tests haben. Manche Tester erhalten so wenig Spesen, dass sie sich fast automatisch einladen lassen müssen.

Das hat Einfluss auf die Beurteilung?
Nicht zwingend. Aber es verändert die Tonalität einer Kritik. Hinzu kommt, dass immer weniger Menschen diese überhaupt schreiben können. Es gibt keinen Lehrgang, weder an den Hotelfachschulen noch an den Journalistenschulen. Im gesamten deutschsprachigen Raum sind wir nicht viel mehr als vielleicht zwei Dutzend hauptberuflich arbeitende Gastrokritiker, welche diese Bezeichnung verdienen.

Was braucht es denn, um Restaurantkritiker zu werden?
Manche behaupten, eine Ausbildung zum Koch wäre dazu notwendig. Tatsächlich kann das nicht schaden, aber es genügt nicht. Vertiefte Produktkenntnisse könnten auf einer Art von Akademie gelehrt werden. Es gibt ja gute Ansätze wie die Università degli Studi di Scienze Gastronomiche in Italien.

Wann haben Sie Ihr erstes Menü verkostet?
Da muss ich etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Ich glaube, es waren Schnitzel, Pommes und Cola, die ich in einem Restaurant bewertet habe. Später tauschte ich dann die Cola gegen Wein aus und begann in meinen Zwanzigern mit den richtigen Kritiken. Mittlerweile teste ich professionell seit 30 Jahren.

Wie veränderte sich die Tätigkeit im Laufe der Zeit?
Früher habe ich teilweise 250 Kritiken pro Jahr geschrieben. Sie können sich ausrechnen, was das heisst. Heute könnte ich das nicht mehr, zweimal am Tag ein Sternemenü essen.

Die Küche hat sich in der Zwischenzeit verändert. Mögen Sie Trends?
Wenn sie gut sind. In den letzten dreissig Jahren habe ich viel kommen und gehen sehen. Etabliert haben sich letztendlich aber nur die Trends, die wirklich gut waren.

Was sollte heute auf keiner Karte mehr zu finden sein?
Ganz bestimmt exotische Tiere. Es gab eine Zeit, da waren Krokodil- oder Schildkrötenfleisch hip oder seltene Tiefseefische. Das ist nicht mehr zeitgemäss. Überhaupt geht die Spitzenküche derzeit stark in Richtung rein pflanzliche Kost.

Geht so nicht etwas verloren?
Wenn es gut gemacht ist, dann nicht. Aber es ist natürlich eine hohe Kunst, aus einem rein pflanzlichen Fond die gleiche Tiefe und Konzentration zu erhalten wie etwa aus einer traditionellen Rinderbrühe. Vegane Küche auf Stern-Niveau braucht viel Erfahrung und ist auch aufwendig. Dennoch gibt es viele Spitzenköche, die vielleicht gerade das reizt.

Spielen solche Zusammenhänge für Sie beim Testen auch eine Rolle?
Nein. Ich bewerte immer das, was auf dem Teller ist. Egal, ob ein einzelner Koch in der Küche steht, der aber ein perfekt zubereitetes Kalbsbries mit Lakritzesauce serviert, oder ob da eine ganze Truppe von Köchen ist, was sich in mehr Details zeigt. In allen Restaurants – so verschieden sie auch sein mögen – gibt es Elemente, die sich miteinander vergleichen lassen.

Die vegane Superköchin kriegt also keine bessere Bewertung als die Köchin, die vor allem teures Fleisch und Fisch auf den Tisch bringt, wenn beides gleich gut schmeckt?
Nein. Das Essen ist gut, also komplex, nachhaltig, aus Top-Produkten gefertigt oder nicht. Gerade hat mir ein Koch Kinmedai serviert, einen seltenen, teuren Fisch. Super. Anderswo habe ich ein tolles Sauerrahmeis mit Erdbeeren gegessen, das im Einkauf sehr wenig kostete.

Geben Sie sich nach einem Testessen zu erkennen?
In der Regel nicht. Es gibt allerdings Ausnahmen – etwa wenn ich für Guides arbeite, die wollen, dass man sich nach dem Bezahlen der Rechnung vorstellt. Manchmal kann ich es aber nicht verhindern, dass ich erkannt werde. Das bringt die jahrelange Arbeit im selben Metier halt mit sich. Es kann aber vorkommen, dass ich deswegen unter einem anderen Namen reserviere.

Kann man auch so kochen, dass es einem Restaurantkritiker besonders gut schmeckt?
Das könnte man wohl – wenn man die Fähigkeiten hat. Gastrokritiker mögen oft intensive, spannende, vibrierende Gerichte. Da kann ein Koch nicht mal eben improvisieren – selbst wenn er den Kritiker erkennt. Ein Löffel Kaviar obendrauf nützt da nichts.

Gibt es auch Restaurants, die sich nach einer Kritik verbessern wollen?
Das kommt vor, aber ich erfahre es selten. Man muss aber berücksichtigen, dass das Bewusstsein dafür an den Hotel- und Berufsfachschulen nicht wirklich gelehrt wird. Ausserdem steht ja meist eine Redaktion zwischen mir und dem bewerteten Restaurant.

Zusammengefasst: Was macht eine gute Küche aus?
Das Produkt sollte im Mittelpunkt stehen und eine individuelle Gestaltung des Essens wäre wünschenswert. Viele Köche ziehen sich heute sicherheitshalber auf Wagyu-Beef, Rehrücken, weissfleischigen Fisch und Ähnliches zurück. Nachhaltigkeit ist auch in der Gastronomie das Zukunftsthema schlechthin. Tierschutz, Regionalität, Frische sind dabei die wichtigsten Elemente.

Ãœber Wolfgang Fassbender
Seine Liebe zu Restaurants entdeckte Wolfgang Fassbender, geboren 1968 in Leverkusen, schon früh. Bereits mit 12 Jahren fand das erste Testessen statt. Später wurde er Chefredaktor «der nächstbesten Schülerzeitung», worauf eine Ausbildung zum Bibliothekar folgte. Später kamen dann die beiden Leidenschaften, jene für das Wort und die für das Essen, wieder zusammen.
Seit 1994 ist Fassbender hauptberuflich als Gastrokritiker, Journalist und Autor tätig, unter anderem als stellvertretender Chefredaktor des Bertelsmann Guides. Um am eigenen Leib zu erfahren, wie heiss und anstrengend der Job in der Küche sein kann, arbeitete er selbst sechs Monate lang als Koch. Heute versucht er sich noch immer gelegentlich selbst am Herd – wenn ihm genug Zeit bleibt neben seinen Engagements als Gastrokritiker für NZZ am Sonntag und NZZ Bellevue, wo er auch den Blog «Nachgewürzt» schreibt, für die Schweizerische Weinzeitung, die Welt am Sonntag, Spiegel Online und viele mehr.
Wolfgang Fassbender lebt in der Pfalz und nahe Zürich. Gemeinsam mit Kollegen betreibt er ein auf Riesling aus Steinlagen spezialisiertes Weingut an der Mosel.