Mehr als bloss Freude an der Bewegung

Der Sportunterricht schafft nicht nur eine Verbindung zwischen motorischen und kognitiven Lernprozessen, er bietet auch ein breites Feld, um wichtige emotionale und soziale Erfahrungen zu sammeln. Dabei geht es um viel mehr als einfach nur um die Freude an der Bewegung.

Drei Lektionen pro Woche. Das ist die Zeit, die hiesige Schülerinnen und Schüler für gewöhnlich beim obligatorischen Sportunterricht in den Turn- und Schwimmhallen verbringen. Und zwar während der ganzen Spanne vom Kindergarten bis zum Ende der Sekundarschule hindurch. Im besten Fall nehmen sie nicht nur die Grundfertigkeiten, sondern einen Sport oder Bewegungsgewohnheiten in ihr späteres Erwachsenenleben mit, die zu mehr Resilienz und Gesundheit führen. Doch auch bei den sozialen Kompetenzen gibt es viel zu lernen. In diesem Sinne kommt hier die wichtigste Maxime des Lehrplanes zum Zug: Erziehung zum Sport und Erziehung durch Sport. Und es gilt beides zu beachten. Wobei auch Dinge wie fair verlieren für andere Situationen im Leben trainiert werden können.

Konkrete Situationen schaffen
Trotz all dieser Qualitäten steht der Sportunterricht bisweilen noch «quer in der Landschaft», wie René Vuk sagt. Er ist Bereichsleiter Bewegung und Sport auf der Primarstufe an der PH Zürich. «In vielen Köpfen ist noch dieses Bild vorhanden, dass Sportunterricht nur Spass machen muss.» Dabei gehe es aber auch darum, sich mit der eigenen Leistung auseinanderzusetzen und beispielsweise etwas zu tun, das Überwindung koste. «Solche Erfolgserlebnisse tragen viel zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins bei.»

Mit der Einführung des Lehrplans 21 hat sich der Sportunterricht nun aber ohnehin grundlegend verändert. René Vuk sieht darin einen regelrechten Paradigmawechsel: «Der Wechsel von der Inhaltsorientierung hin zum kompetenzorientierten Unterricht ist im Sportunterricht ein grosser Schritt.» Doch was bedeutet das konkret? Die Planung des Sportunterrichts gehe nicht mehr vom Input aus, sondern vom Output. Oder anders gesagt: von konkreten Anwendungssituationen. Diese werden für alle der sechs Kompetenzbereiche «Laufen, Springen, Werfen», «Sich im Wasser bewegen», «Bewegen an Geräten », «Darstellen & Tanzen», «Spielen», sowie «Rollen, Gleiten & Fahren» geschaffen.

Eine Anwendungssituation könne etwa sein, die Schülerinnen und Schüler nicht bloss in zwei Teams Handball spielen zu lassen, sondern auf mehreren kleinen Feldern und in kleinen Gruppen zu trainieren, erklärt René Vuk. So lasse sich besser überprüfen, ob etwa ein Pass angenommen werden könne, der Sprungwurf beherrscht wird oder ob es die Spielerinnen und Spieler schaffen, sich frei zu stellen. Zusätzlich zeigt sich bereits im Spiel, ob die Regeln – etwa die Foulregeln oder die Schrittfelder – klar sind. Das Training in kleinen Gruppen gewährleiste ausserdem eine ständige aktive Tätigkeit bei den Kindern und Jugendlichen. So lernen sie, innerhalb des Spiels eine Haltung zu entwickeln und sich etwa für ihr Team zu engagieren oder zu lernen, mit den eigenen Emotionen umzugehen. Und nicht zuletzt: eine Niederlage zu akzeptieren. «In einer solchen Anwendungssituation kann ich als Lehrperson ganz klar überprüfen, was die Schülerinnen und Schüler können und wissen», so Vuk.

Fotos: Niklaus Spoerri

Spielorientierung braucht noch Unterstützung
In der Sportwissenschaft werden spielorientierte Methoden bei der Vermittlung von Bewegungskompetenzen seit über dreissig Jahren favorisiert. Eine kürzlich erschienene Studie hat nun das pädagogische Potenzial von Sportspielen untersucht. Im Zentrum des gemeinsamen Forschungsprojekts der PH Zürich und des Bundesamtes für Sport steht die Frage, wie Lehrpersonen spielorientierte Vermittlungsmethoden effektiv einsetzen können und in welcher Weise sie dabei professionelle Unterstützung benötigen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine spielorientierte Vermittlung von Sportspielen bei den befragten Lehrpersonen eine hohe Akzeptanz erfährt und sich längerfristig etablieren wird. Die grösste Herausforderung besteht gemäss Untersuchung darin, bei der Vermittlung schülerorientiert vorzugehen und echte Partizipation zuzulassen. Die Lehrpersonen fürchten bei der Spielorientierung einen Kontrollverlust und damit verbundene Disziplinprobleme. Es ist ihnen wichtig, «die Fäden jederzeit in der Hand zu behalten». Hier bedarf es noch der Unterstützung durch unterrichtsbezogenes Coaching und kollegiale Hospitationen. Das Forschungsprojekt offenbarte aber noch einen weiteren spannenden Punkt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass individuelle Vorstellungen von Lehr- und Lernprozessen massgeblich durch den eigenen Werdegang geprägt sind. Darum sei es wichtig, dass Lehrpersonen sich aktiv und kritisch mit der eigenen Biografie als Sporttreibende auseinandersetzen, um sich ihrer eigenen Verhaltensweisen bewusst zu werden.

Aus Barrenturnen wird Parcours
Diese Beobachtung teilt auch Ursula Baggenstos, die an der PH Zürich Sport und Bewegung auf der Sekundarstufe I unterrichtet. Sie sagt: «Die eigene Prägung aus der Schulzeit ist oft stark. Das ist eine Herausforderung in der Ausbildung.» Gerade durch den Lehrplan 21 wurde auf ihrer Stufe vieles freier gestaltbar. «Früher folgte der Unterricht stärker den einzelnen Disziplinen wie etwa der Leichtathletik.» Heute stehe es den Lehrpersonen frei, ob sie im Kompetenzbereich «Laufen, Springen, Werfen» nun klassisch Hochsprung oder Weitsprung machen – oder zum Beispiel im Hochsprung mittels einer Lernaufgabe die verschiedenen Techniken «Schersprung», «Fosbury-Flop», «Hocksprung» und «Straddle» ausprobieren und analysieren wollen. Während die einen diese Freiheit geniessen, stellt sie andere vor die Herausforderung, dass in einem grösseren Gestaltungsraum mehr Entscheidungen gefällt werden müssen. Darin werden die Studierenden in der Ausbildung stark sensibilisiert. «Wir machen regelmässige Reflexionen, die etwa helfen, die Erfahrungen in den Praktika mit der erlernten Theorie in Einklang zu bringen.» Dabei werde auch die eigene Rolle und die eigene sportliche Biografie mit einbezogen. «Damit das Erlebte nicht stärker wird als das Gelernte», sagt Ursula Baggenstos. Hilfreich sei dabei, dass sich in den letzten Jahren verschiedene Entwicklungen ergeben hätten. Was früher etwa «Barrenturnen» hiess, wurde im Lehrplan 21 zu «Bewegen an Geräten» und heisst auf der Sekundarstufe I an vielen Orten «Parcours» und kann, wie der Name schon sagt, als solcher durchgeführt werden. Dafür werden verschiedene Hindernisse in der Halle platziert, die möglichst schnell oder «stylisch» überwunden werden sollen. Dabei kommen Elemente aus der Koordination zum Tragen, aber ebenso Schnelligkeit und Stützkraft sind wichtig. Das Beispiel zeigt deutlich: Es gibt nicht mehr nur den klassischen Weg. Der Sportunterricht lässt trendige Elemente zu, die bei Jugendlichen auf grosse Begeisterung stossen, wie etwa das gut besuchte neue Sportzentrum Josef der Stadt Zürich zeigt, wo Kinder und Jugendliche auf einem Ninja-Parcours oder beim Freerunning trainieren.

Das spiegelt sich im Weiterbildungsbereich der PH Zürich wieder. «Das Weiterbildungsmodul der PH Zürich für die Trendsportart Ninja Warrior ist gerade sehr gefragt», sagt Ursula Baggenstos. Nachdem das Programm der letzten Jahre stark auf den Lehrplan 21 ausgerichtet war, der viele Ressourcen gebunden hatte, könne man sich heute wieder mehr auf andere Inhalte konzentrieren. So wird 2022 unter anderem der Salsaboom in einem auf die Sekundarstufe I ausgerichteten Weiterbildungskurs aufgenommen. Dort steht die Vermittlung von karibischen Paartänzen im Mittelpunkt. Eigentlich wird auf der Sekundarstufe I im Sportunterricht nach Geschlechtern getrennt. Es gebe aber immer wieder Situationen, wo es sich lohne, mit gemischten Gruppen zu arbeiten. «So profitieren beide Seiten voneinander», sagt Ursula Baggenstos. Dies entspreche auch dem Ziel des geschlechtersensiblen Sportunterrichts, bei dem Bewegungs-, Spiel- und Ausdruckspotenzial durch einen bewussten Umgang mit den Eigenheiten von Mädchen und Jungen gefördert werden, etwa mit angepassten Unterrichtsarrangements oder differenzierten Leistungserwartungen und Reflexion.

Entwicklungsschübe berücksichtigen
«Auf der Sekundarstufe I sind im Sportunterricht auch die hormonellen Entwicklungen zu berücksichtigen», sagt Ursula Baggenstos. Zwar zeigen Studien, dass die biologische Entwicklung teilweise bei Kindern im gleichen Alter um bis zu vier Jahre auseinander liegt. Dennoch fliesst dieser Aspekt im Unterricht mit ein, weshalb bei der Unterrichtsplanung auch auf entwicklungspsychologische und entwicklungsbiologische Faktoren geachtet wird.

In der Praxis zeigt sich, dass sich die körperlichen Fähigkeiten bei den Kindern und Jugendlichen in den vergangenen 20 Jahren eher etwas verschlechtert haben. So etwa bei Kraft und Ausdauer oder bei technischen Fähigkeiten. Ursula Baggenstos sieht die Gründe dafür aber nicht nur in der Digitalisierung. «Früher waren oft auch die Schulwege länger. Die Kinder und Jugendlichen waren mehr zu Fuss unterwegs und wurden nicht in die Schule gefahren.» Einen Einfluss habe zudem, dass die kulturelle Heterogenität bei den Schülerinnen und Schülern stark zugenommen habe und nicht überall gleich viel Wert auf Bewegung gelegt werde. Oft spiele die Motivation eine wichtige Rolle. Lehrpersonen unterschieden dabei immer, ob ein Kind nicht kann oder ob es nicht will. Wenn es aus körperlicher Sicht nicht könne, werde nach Einzellösungen gesucht. Fehlt schlicht der Wille, ist dies eine grosse pädagogische Herausforderung – gerade im Hinblick auf kooperative Unterrichtsmethoden, die nur funktionieren, wenn alle mitmachen. Da der Sport kein Promotionsfach ist, die Note im Hinblick auf die weiterführende Schule also nicht zählt, setzt der Sportunterricht stark auf die intrinsische Motivation. «Wir wissen aber, dass den Schülerinnen und Schülern die Sportnote sehr wichtig ist», sagt Ursula Baggenstos.

Wer sich gut bewegt, wirkt integrierter
Während sich die Schülerinnen und Schüler in der Primarstufe im Sportunterricht oft noch für alles interessierten, sinke diese Begeisterung auf der Sekundarstufe I merklich. Deshalb wird hier versucht, möglichst breit gefächert zu unterrichten, damit jeder und jede etwas finde, das er oder sie gerne macht. Im besten Fall sei dies eine Art Sport fürs Leben, im Minimum entwickle sich daraus zumindest eine aktive Bewegungsgewohnheit.

Diese Gewohnheiten bestehen aber im besten Fall schon von Kindesbeinen an. Wie eine neue Studie der PH Zürich zeigt, werden bereits Kindergartenkinder von ihren Lehrpersonen und Eltern als integrierter wahrgenommen, wenn sie sich motorisch kompetent bewegen. Für die Studie wurden die motorischen Kompetenzen von über 500 Kindern in den Kantonen Tessin und Nidwalden beobachtet und mittels Fragebogen ausgewertet. Der aktuelle Stand der Forschung deutet darauf hin, dass frühe Bewegungserfahrung einen Einfluss darauf hat, wie sich ein Kind in eine Gemeinschaft integriert.

Dieser doppelten Bedeutung von emotionalen und sportlichen Aspekten ist sich Luzia Huber-Eugster sehr bewusst. Sie unterrichtet an der PH Zürich «Bewegung und Sport» in den Studiengängen Kindergarten sowie Kindergarten- und Unterstufe. Sie sagt: «In diesem Alter lernen die Kinder spielerisch. Es ist wichtig, sie hier abzuholen.» Dafür sei es sinnvoll, den Bewegungsdrang zu nutzen, den die Kinder natürlicherweise mitbringen. Durch vielseitige Aufgaben, die je nach Kind erschwert oder erleichtert werden könnten, werden das Selbstvertrauen gestärkt und die Motivation erhöht. Dies komme letztlich auch den motorischen Basiskompetenzen zugute. Wichtig sei zudem, fair zu gewinnen oder zu verlieren und einander zuzuhören und gemeinsam Ideen zu entwickeln. Wenn die Kinder sich diese Fähigkeiten bereits früh aneignen, trage das dazu bei, dass Lehrpersonen später einen guten Sportunterricht gestalten können.

Wichtig sei ausserdem, im restlichen Schulalltag immer wieder Situationen zu schaffen, bei denen die Freude an der Bewegung aktiviert werde und motorische Kompetenzen verbessert werden können. Diesem Thema widmet sich auch eine Weiterbildung der PH Zürich für Lehrpersonen aus dem Kanton Zürich. Unter dem Motto «Bewegte Schule» lernen die Lehrerinnen und Lehrer hier, was es braucht, um mit gezielter Bewegung mehr Wohlbefinden ins Klassenzimmer zu bringen. Dabei biete es sich an, bei der Einrichtung die Bewegungsmöglichkeiten zu bedenken. So entwickeln die Schülerinnen und Schüler quasi im Vorbeigehen das Wissen, wie sie sich bei Stress regulieren können. Dabei orientiert man sich auch an diversen Untersuchungen, die zum Schluss kommen, dass ein «bewegter» Unterricht zu besserer Konzentration und mehr Aufmerksamkeit führen kann.

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