Wie kann man im Sportunterricht Kindern mit unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht werden? Eine Bülacher Lehrerin zeigt, wie sie ihre dritte Klasse zwei Stunden lang dazu bringt, sich fast pausenlos zu bewegen, zu üben und auszuprobieren.
Herumstehen, tratschen, frieren – wer in erster Linie solche Dinge mit dem Turnunterricht in Verbindung bringt, wird in dieser Doppelstunde seine Vorstellungen revidieren müssen. Im Bülacher Primarschulhaus Allmend ist es Montagnachmittag, kurz nach halb zwei Uhr. In Sportkleidern hüpfen die Kinder eins ums andere zur Tür herein und werden ohne Aufforderung sofort aktiv. In der Mitte der Turnhalle liegen zwei Aufgabenblätter mit Würfeln. Je nach gewürfelter Zahl stehen zwei Runden joggen an, Liegestützen, Rumpfbeugen, der Sprossenwand entlang klettern, aus der Hocke hochspringen oder eine Runde auf allen Vieren gehen. Die Halle ist nun voller Bewegung, während schwungvolle Popmusik ertönt. Klar: Einzelne Kinder kürzen die Aufgaben etwas ab, wenn sie ausser Atem kommen. Dennoch sitzt niemand herum oder drückt sich.
«Mir ist es wichtig, dass die Kinder immer beschäftigt sind und keine tote Zeit entsteht», sagt Klassenlehrerin Stéphanie Bachofner. «Einige bewegen sich in der Freizeit wenig, weil sie oft gamen.» Obwohl Bachofner auch in Fächern wie Mathematik hin und wieder Bewegungselemente einbaut, verbringt die Klasse in der Schule ebenfalls einen Grossteil der Zeit in sitzender Position. «Die Kinder lieben das Turnen», betont die 30-Jährige, die ihr Studium an der PH Zürich vor sieben Jahren abgeschlossen hat. «Sie müssen Energie loswerden.» Deshalb versuche sie, sich mit Erklärungen und Redezeit kurz zu halten.
So auch an diesem Montagnachmittag Mitte März. Nach einer intensiven Viertelstunde mit Übungen, bei denen sowohl Kondition als auch Kraft, Geschicklichkeit und das Gleichgewicht trainiert werden, versammeln sich die 17 Schülerinnen und Schüler kurz im Kreis für eine Begrüssung: «Guten Nachmittag, Frau Bachofner!» Kurz darauf geht es weiter mit einem sogenannten Böötli-Fangis: Die Kinder tragen einen Reifen um sich herum, während andere versuchen, einen Ball hindurchzuwerfen. Wer getroffen wird, muss in den Ring sitzen, bis er wieder erlöst wird. Danach versammelt Bachofner die Kinder zu einer kurzen Reflexionsrunde: «Gibt es einen Trick, wie man besser trifft?», fragt sie. «Ich habe mich leise angeschlichen und den Ball von hinten in den Ring geworfen», verrät ein Mädchen seine Taktik.
Nach dem speziellen Fangspiel steht das Aufstellen eines Geräteparcours mit insgesamt sechs Posten auf dem Programm. In Dreiergruppen rollen die Kinder Wagen mit Matten und Langbänken aus dem Geräteraum, einen Barren, tragen ein Minitrampolin sowie Bälle herein. Alles klappt wie am Schnürchen. Nach einer kurzen Trinkpause und dem Vorzeigen der Aufgaben durch verschiedene Kinder kann’s bereits losgehen.
Besonders beliebt ist natürlich das Trampolin. Die kleinen, wendigen Jungen spicken wie Gummibälle darüber und landen in allen möglichen Positionen auf der dicken Matte. Ein Mädchen legt sogar einen perfekten Salto hin. Doch auch schwerfälligere Kinder trauen sich bei jedem Durchgang etwas mehr zu und scheinen Freude am Hüpfen zu entwickeln.
Viel Kraft braucht die Übung, bei der man sich auf die Hände gestützt über einen Barren hangeln muss und gleichzeitig einen Ball zwischen die Beine presst. Immer wieder entschlüpft der Ball den Kindern. Doch wenn es gelingt, ihn am Ende der Strecke in die Kiste fallen zu lassen, strahlen sie. Eine Mutprobe ist für viele das Balancieren auf einer Bank, die an den Ringen befestigt ist und leicht hin- und herschwingt.
Motivieren statt entmutigen
Stéphanie Bachofner geht von Posten zu Posten, unterstützt hier ein Kind, schiebt da eine Matte zurecht, um die Sicherheit zu gewährleisten, leitet an, ermutigt, lobt und klopft auf etliche Schultern. Bei dem emsigen Treiben den Überblick zu bewahren, sei anspruchsvoll, betont sie. Sie habe viel Arbeit in die Klassenführung investiert, bis die Kinder nun in der dritten Klasse so selbstständig und strukturiert sind. «Am wichtigsten ist es, dass sie motiviert sind und immer wieder probieren», findet die Lehrerin. «Hilfe anfordern oder Hilfsmittel benutzen darf kein Tabu sein.»
Die körperlichen Voraussetzungen und die sportliche Leistungsfähigkeit seien bereits in diesem Alter sehr unterschiedlich, stellt Bachofner fest. Sie hat schon Kinder erlebt, die Mühe haben, eine Treppe hochzusteigen oder einen Purzelbaum zu schlagen. Andere gehen mehrmals pro Woche ins Kunstturnen oder in den Fussballclub und sind entsprechend flink und geschickt. In diesem Quartier – das Schulhaus Allmend ist eine Quims-Schule (Qualität in multikulturellen Schulen) – sei das aber eher die Minderheit. Viele seien wohl mit dem breiten Angebot an Vereinen und Freizeitmöglichkeiten wenig vertraut.
«Mein Ziel ist es, dass alle Spass haben und merken, dass ihnen Sport guttut», erklärt Bachofner. Im besten Fall entdecken sie eine Sportart, die sie längerfristig betreiben, um fit und gesund zu bleiben. Häufig greift die Klassenlehrerin das Thema auch in Elterngesprächen auf und weist auf besondere Begabungen der Kinder sowie entsprechende Angebote hin – etwa einen Sportverein oder die sogenannten Open Sundays, bei denen sich Kinder und Jugendliche in zwei Bülacher Turnhallen am Wochenende unter einer Leitung austoben können.
Gute Vorbereitung und Organisation
Die Doppellektion am Montagnachmittag nutzt Bachofner meist für aufwendigere Unterrichtsformen wie eben einen Geräteparcours. Die Sportlektionen plant sie jeweils quartalsweise zusammen mit der Lehrerin ihrer Parallelklasse. Die beiden tauschen sich regelmässig darüber aus, was gut funktioniert hat oder welche Elemente angepasst werden sollten. In der dritten Sportlektion steht jede zweite Woche Schwimmen auf dem Stundenplan. Auch Ballspiele macht Bachofner häufig. Sie teilt die Halle dann zum Beispiel in zwei Teile und lässt je zwei Gruppen gegeneinander Unihockey oder Bankball spielen. Solche Elemente seien sehr förderlich für den Erwerb überfachlicher Kompetenzen wie etwa Teamgeist, Fairness, verbale und nonverbale Kommunikation sowie Kooperation und organisiertes Handeln.
Als Praxislehrperson begleitet Stéphanie Bachofner regelmässig auch Studierende der PH Zürich. Sie legt ihnen besonders eine gute Organisation ans Herz – etwa dass sie sich vorher die Halle und das Material genau anschauen und die Lektion gut strukturieren. «Einige tendieren dazu, zu viel zu erklären», macht Bachofner die Erfahrung. Ein Tipp, den sie den Studierenden mit auf den Weg gibt: «Eine Übung besser zuerst ausprobieren lassen und danach allenfalls nachjustieren.»
Veraltete Formen überdenken
Bei Teamspielen teilt Bachofner die Gruppen meist selber ein oder lässt das Zufallsprinzip walten. Dass zwei Kinder die anderen der Reihe nach auswählen, wie früher üblich, ist für sie ein No-Go. Denn dabei kommen die schwächsten Kinder stets als Letzte dran. Eine unnötige Stigmatisierung, die manchen die Freude am Sport verderben kann, findet die erfahrene Lehrerin. Viel besser für die längerfristige Motivation und das Selbstbewusstsein sei es, wenn die Kinder sich an sich selber messen und immer wieder kleine Fortschritte feststellen können. Sinnvoll sei auch, dass es in der Unterstufe in diesem Fach noch keine Noten gibt und der Unterricht somit weniger leistungsorientiert ist. In ihrer eigenen Schulzeit hat Stéphanie Bachofner noch regelmässig Völkerball gespielt. Beim früher äusserst beliebten «Völk» müssen sich zwei Gruppen – oder eben Völker – gegenseitig abschiessen. Die Getroffenen werden auf die andere Seite versetzt, in die «Hölle» oder «Choli» – wohl ein Diminutiv für Kolonie. Manche Lehrpersonen haben diese geschichtlich heiklen Begriffe in unverfänglichere wie etwa «Himmel» oder «Ferien» umgewandelt. Bachofner hingegen findet Völk auch unabhängig vom kriegerischen Hintergrund kein geeignetes Spiel. «Es gibt zu viele Wartezeiten, in denen viele Kinder passiv sind.»
Trotz dieser Erfahrung hatte Stéphanie Bachofner Sport grundsätzlich gern. «Ich finde Turnen ein lässiges Fach.» Sie sei eine relativ sportliche Schülerin gewesen und habe vor allem Ballspiele geliebt. Auch heute bewegt sie sich in der Freizeit noch regelmässig. Sie spielt Tennis und geht joggen oder wandern. Nur mit gewissen Geräteübungen habe sie in der Schule Mühe gehabt, erzählt Bachofner: «Beim Reckaufschwung hat es mir abgelöscht. » Aufgrund dieses Erlebnisses habe sie sich etwas überwinden müssen, solche Übungen in den eigenen Unterricht zu integrieren.
Spielerischer Ausklang
In der Bülacher Turnhalle ist es mittlerweile Viertel vor drei. Alle sechs Gruppen haben sämtliche Posten absolviert. Nun versammelt sich die Klasse nochmals in der Mitte im Kreis, um ein wenig zu verschnaufen und von den Erfahrungen zu erzählen. «Ich habe gemerkt, dass ich die Arme gestreckt halten muss, wenn ich mich auf der Matte beim Rüberspringen aufstütze», reflektiert ein Mädchen, derweil ein Junge stolz berichtet, wie er sich nun traue, die schwankende Bank hinauf zu balancieren, ohne dass sie jemand festhält. «Ich habe bei vielen Fortschritte gesehen», lobt die Lehrerin. «Einige haben zuhause auf dem Bett wohl die Rolle geübt.»
Noch sind die Geräte in der Halle verteilt. Bachofner nutzt den Parcours gleich nochmals für ein anderes Spiel: Die Kinder bilden Zweierpaare. Eines ist der Bergführer und führt den Wanderer über eine anspruchsvolle Route. «Die Kinder zeigen einander gerne etwas vor», erklärt die Lehrerin. Nachdem die Paare ihre Rolle gewechselt haben, geht es ans Aufräumen. Zum Abschluss dürfen die Schülerinnen und Schüler noch das beliebte Spiel «Ziitig läse, Ziitig läse» machen: Ein Kind dreht sich zur Wand, während die anderen sich anschleichen. Sobald es sich umdreht und «stopp» ruft, müssen die anderen stillstehen. Wenn es ein Kind noch in Bewegung erwischt, muss dieses an den Ausgangspunkt zurück. Auch nach zwei Stunden intensiver Bewegung ist die Klasse in diesem Spiel noch mit Begeisterung dabei.