Die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen, ist individuell unterschiedlich. Wie lässt sich das erklären? Ein Projekt der PH Zürich und der Universität Fribourg untersuchte die Sprachlerneignung von Schülerinnen und Schülern in der Primarschule. Hansjakob Schneider, der Leiter des Zürcher Teilprojekts, erläutert die wichtigsten Erkenntnisse.
Hansjakob Schneider, was ist unter Sprachlerneignung zu verstehen?
Sprachlerneignung beschreibt in gewisser Weise das, was wir in der Alltagssprache Sprachbegabung nennen. Aber was ist Sprachbegabung eigentlich? Wir bezeichnen damit die Fähigkeit, Sprachen relativ mühelos zu erlernen. Bereits Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelten Forschende in den USA einen Test, mit dem der Erfolg beim Lernen einer Sprache prognostiziert werden kann. Im Test werden vier Fähigkeiten evaluiert, die auch heute noch ihre Gültigkeit als Faktoren für die Feststellung der Sprachlerneignung haben: Erstens das Talent, Laute gut unterscheiden und mental speichern zu können. Dies ist besonders für die gesprochene Sprache wichtig, in der Laute nicht einzeln vorkommen, sondern in rasanter Abfolge und ohne klare Abgrenzung voneinander. Wer diesen Lautstrom gut segmentieren kann, kann auch Wörter schneller erkennen. Zweitens das grammatische Gespür, das ermöglicht, im Satz Rollen zu erkennen, wie zum Beispiel die des Handelnden oder des Empfängers. Drittens die Fähigkeit, grammatische Strukturen in unbekannten Sprachen zu erfassen – welches Wort könnte das Verb sein? Wie werden Fall, Zahl oder Zeit angezeigt? Die vierte Fähigkeit bezieht sich auf die Gedächtnisleistung.
Was genau haben Sie in Ihrem Forschungsprojekt untersucht?
Unser Ziel war, das Potenzial und auch die Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern beim Erlernen einer Fremdsprache besser zu verstehen, und Sprachlerneignung hat tatsächlich grossen Einfluss auf das Sprachlernen. Wir planen nun, ein Diagnoseinstrument zu entwickeln, das im schulischen Kontext genutzt werden kann. Mit Hilfe des Instruments können Lehrpersonen dann einschätzen, welche Leistungen sie von den Schülerinnen und Schülern individuell erwarten können und wer besondere Aufmerksamkeit benötigt. Wir wollten auch herausfinden, ob Sprachlerneignung die Hauptursache für den Erfolg oder Misserfolg beim Sprachenlernen ist und ob sie beim Erlernen von Englisch als Fremdsprache ähnliche Auswirkungen hat wie beim Lernen von Deutsch als Schulsprache.
Ist die individuelle Sprachlerneignung bei allen Sprachen ähnlich?
Grundsätzlich ist Sprachlerneignung weder an eine bestimmte Sprache noch an bestimmte Situationen des Sprachlernens gebunden. In unseren Untersuchungen spielte die Sprachlerneignung der Schülerinnen und Schüler beim Erlernen von Englisch als Fremdsprache interessanterweise aber eine stärkere Rolle als beim Lernen von Deutsch als Schulsprache. Wir gehen davon aus, dass das eine Ressourcenfrage ist: Während Englisch nur in relativ wenigen Stunden pro Woche unterrichtet wird, ist Deutsch in allen Fächern Unterrichtssprache. Die Fähigkeit, mit wenigen Ressourcen viel zu erreichen, hängt besonders stark von der individuellen Sprachbegabung ab. Wenn die Menge des Inputs und der kommunikativen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Sprache hingegen sehr gross ist, können auch
weniger sprachbegabte Personen einen guten Sprachstand erreichen.
Wie können die individuellen Unterschiede beim Erlernen einer Fremdsprache erklärt werden?
Der präziseste Prädiktor für den Sprachlernerfolg ist die Sprachlerneignung. Sie hat viele verschiedene Facetten wie die Fähigkeiten, Laute zu unterscheiden, grammatische Funktionen zu erschliessen und auswendig zu lernen. Diese einzelnen Fähigkeiten verbinden sich zu einem Konstrukt, das für einen beträchtlichen Teil des Sprachlernerfolgs verantwortlich ist. Es sind jedoch noch weitere Faktoren am Lernerfolg beteiligt wie die Motivation und das Selbstkonzept zur Sprache – also wie gut sich das Kind selbst einschätzt. Unsere Untersuchungen zeigen, dass vor allem Letzteres eine zentrale Rolle spielt, denn je höher das Vertrauen in die eigenen Sprachfähigkeiten ist, desto grösser fällt der Lernerfolg aus. Die allgemeine Intelligenz hingegen, die sonst ein wichtiger Faktor beim Lernen ist, hat deutlich weniger Einfluss als die Sprachlerneignung. Auch die Bildungsnähe des Elternhauses spielt nur eine geringe Rolle: Sie wirkte sich nicht auf das Erlernen von Englisch als Fremdsprache aus, auf das Lernen von Deutsch hingegen schon.
Kann Sprachlerneignung trainiert werden?
Das ist eine wichtige Frage für die Schule, die die Forschung jedoch noch nicht beantworten kann. Momentan geht die Forschung aber davon aus, dass Sprachlerneignung – ähnlich wie allgemeine Intelligenz – ein eher stabiles individuelles Merkmal ist. Ob sie hoch oder schwach ausgeprägt ist, bleibt über die Zeit hinweg relativ konstant.
Wie können weniger stark entwickelte Aspekte dennoch gefördert werden?
Mit Sicherheit kann eine schwache Sprachlerneignung durch erhöhten Einsatz beim Lernen kompensiert werden: Wer ein schlechteres Gedächtnis hat, braucht mehr Zeit beim Vokabellernen, und wer ein schwaches Gespür für Grammatik hat, muss mehr üben. Lehrpersonen können die Leistungen der Kinder durch ein unterstützendes und ermutigendes Verhalten positiv beeinflussen.
Welche Erkenntnis aus dem Projekt möchten Sie den Lehrerinnen und Lehrern insbesondere weitergeben?
Wichtig ist, dass Lehrpersonen die Ursachen der unterschiedlichen Leistungen beim Fremdsprachenlernen erkennen. Sie sollten bemüht sein, bei den Schülerinnen und Schülern ein positives Selbstkonzept für das Fremdsprachenlernen aufzubauen. Ermutigung ist hier ein wichtiges Stichwort. Massstab sollte eher sein, welche Fortschritte das Kind gemacht hat und weniger die Frage, wie leistungsstark es im Vergleich zum Rest der Klasse ist.
Wie kann die Motivation für das Sprachlernen gesteigert werden?
Eigentlich muss man von Motivation im Plural sprechen, denn es gibt viele unterschiedliche Arten von Motivation, die aber nicht alle im gleichen Mass beeinflussbar sind. Die intrinsische Motivation, die eigene positive Haltung gegenüber einer bestimmten Tätigkeit, lässt sich nur schwer steuern. Schulisch eher beeinflussen lässt sich die Lingua-franca-Motivation, die auf dem Gefühl basiert, dass man eine Sprache später wirklich gebrauchen kann. Sie ist zum Beispiel bei Englisch als Sprache der internationalen Kommunikation generell sehr viel stärker ausgeprägt als bei Französisch. Eine Motivation, die negativ auf das Sprachlernen wirkt, ist die «foreign language anxiety» – wenn Kinder Angst haben, sich in der Fremdsprache zu exponieren. Das kommt besonders bei mündlichen Äusserungen vor. Lehrpersonen können hier eine positive Fehlerkultur pflegen nach dem Motto «Fehler sind nichts Schlimmes, sie gehören zum Lernen, sie passieren allen Menschen und es gibt keinen Grund für Angst und Scham».