Das Meer als Sehnsuchtsort

Über 2200 italienischsprachige Kinder und Jugendliche besuchen im Kanton Zürich den Unterricht in «Heimatlicher Sprache und Kultur» – dies ausserhalb des Stundenplans der Volksschule. Ein Besuch einer Doppellektion im Zürcher Kreis 3 gewährt Einblick ins Engagement der jugendlichen Secondas und Secondos.

Die Sonne scheint an diesem milden Frühlingstag, es ist Freitagnachmittag um 15 Uhr 30. Auf dem Pausenplatz des Schulhauses Aemtler B im Stadtzürcher Quartier Wiedikon spielen ein paar Jugendliche Pingpong, ihre Handys benutzen sie dabei als Schläger. Im Schulhaus herrscht um diese Zeit bereits Leere. Einzig im ersten Stock klingen aus einem Schulzimmer vergnügte Stimmen. Ein paar Schülerinnen sitzen bereits an ihren Einzelpulten, sie tragen alle Schutzmasken. Langsam füllt sich das Klassenzimmer, die zehn Mädchen und zwei Knaben schlagen ihr Italienischlehrmittel auf.

Fotos: Dieter Seeger

Die Zwölf- und Dreizehnjährigen kommen an diesem Freitagnachmittag aus verschiedenen Zürcher Quartieren ins Aemtler B, um freiwillig den Unterricht in «Heimatlicher Sprache und Kultur» (HSK) zu besuchen. Die Freitagsklasse im Aemtler B ist eine erste Oberstufe, nach fünf Jahren Primarschulunterricht wechselt das italienische Schulsystem in die Oberstufe. Viele Kinder oder Enkelkinder von italienischen Migrantinnen und Migranten besuchen neben der regulären Volksschule zwei Lektionen HSK-Unterricht pro Woche. Die meisten schliessen den Unterricht mit einer international anerkannten Sprachprüfung ab.

Die abendliche Piazza und das Essen
Rosanna Chirichella Caratsch begrüsst alle Schülerinnen und Schüler an diesem Freitagnachmittag persönlich, waren sie doch in den letzten Wochen im Fernunterricht. «Unser Online-Kurs hat zwar ausgezeichnet funktioniert, aber wir sind sehr froh, uns wieder physisch zu treffen», sagt die 57-jährige Lehrerin sichtlich erfreut.

Zu Beginn der Doppellektion werden die Hausaufgaben im Plenum kontrolliert und die Schülerinnen und Schüler arbeiten mit dem Lehrmittel Syllabus 1, einem für Nicht-Italienischsprachige konzipierten und von Lehrerin Chirichella Caratsch selbst entwickelten Lehrmittel. Das Buch deckt von Grammatik über Lesestoff bis zum Lebensalltag der Mädchen und Knaben zugeschnittene Themen wie etwa die Social-Media-Nutzung vieles ab. Der Unterricht wird in Italienisch durchgeführt, allerdings sprechen die Schülerinnen und Schüler untereinander häufig Schweizerdeutsch. So auch ein Mädchen, das von Rosanna Chirichella Caratsch aufgerufen wird, ihre selbst geschriebene Geschichte vorzulesen: «Ich will meine Geschichte nicht vorlesen, sie ist zu doof», windet sie sich. Die restlichen Schülerinnen und Schüler lesen ihre kleinen Werke vor – bei den einen klingt es akzentfrei, bei anderen hört man die schweizerdeutsche Sozialisierung durch Schule und Umfeld.

Die Mädchen und Knaben sind dem Geburtsland ihrer Eltern oder Grosseltern sehr verbunden, dies kommt aus den Gesprächen in der Pause klar hervor. Sie haben Verwandte in der Region Puglia, in Calabria, in der Basilicata oder auf Sizilien und verbinden mit Italien vor allem schöne Ferienerlebnisse. So wird das Meer von der ganzen Klasse als Sehnsuchtsort genannt. Sie assoziieren mit Italien aber auch die abendliche Piazza mit den vergnügten Menschen und das ausgezeichnete Essen.

Rosanna Chirichella Caratsch lächelt ob der schwelgerischen Voten ihrer Klasse. Sie selbst kam vor 33 Jahren der Liebe wegen in die Schweiz. Sie hatte in den Ferien einen jungen Schweizer kennengelernt und zog mit ihm von Salerno nach Zürich. Seit rund 21 Jahren unterrichtet sie nun HSK-Kurse.

Italienischunterricht mit langer Tradition
Als mit dem sogenannten «Italiener-Abkommen» von 1964 der Familiennachzug für die damaligen Saisonniers ermöglicht wurde, kamen viele italienischsprachige Kinder in die Schweiz und die hiesige Botschaft initiierte die ersten Italienischkurse. Dies war die Geburtsstunde des heutigen HSK-Unterrichts. Auf dem italienischen Konsulat in Zürich ist Carola Z. Gavazzi für die Koordination des HSK-Unterrichts im Kanton Zürich, in der Zentral- und Nordostschweiz und im Fürstentum Liechtenstein zuständig. Sie arbeitet mit 14 kantonalen Bildungsdirektionen und leitet als Schulleiterin zwar keine Schule, aber ist verantwortlich für mehr als 50 Lehrpersonen und deren Klassen. Allein im Kanton Zürich sind dies über 2200 Kinder und Jugendliche.

Zurück im Schulzimmer im Zürcher Kreis 3: Den Schluss der Doppellektion widmet Rosanna Chirichella Caratsch einem Input zur italienischen Kunstgeschichte. Mit einem Text über den italienischen Maler und Baumeister Giotto erhalten die Schülerinnen und Schüler einen Einblick ins Schaffen des entscheidendsten Wegbereiters der Renaissance. Vom Aemtler-Pausenplatz klingen nun nur noch vereinzelt Stimmen durchs offene Fenster ins Schulzimmer. Um 17 Uhr 30 endet der Italienischunterricht, die Mädchen und Knaben packen ihre Sachen zusammen und schlendern aus dem Schulzimmer. Erst in einer Woche treffen sie sich als HSK-Klasse wieder – und tauchen für zwei Stunden in die Sprache und Heimat ihrer Eltern oder Grosseltern ein.

PH Zürich unterstützt HSK-Unterricht
Kinder und Jugendliche nicht deutscher Erstsprache können in Zürich ab dem Kindergarten den ergänzenden Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) besuchen. Der HSK-Unterricht fördert die Erstsprache sowie die Chancengerechtigkeit und vermittelt Hintergrundwissen über die Sprachregion und das Herkunftsland. Die PH Zürich unterstützt die HSK-Lehrpersonen mit Weiterbildungen und eigens entwickelten, sprachspezifischen Lehrmitteln. Diese sind in sieben Sprachen übersetzt und online verfügbar: tiny.phzh.ch/jcpoosdn

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