Fast hundert tamilische Kinder und Jugendliche besuchen zusätzlich zum regulären Schulunterricht den Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur in Oerlikon. Die meisten Klassen legen Ende Jahr eine Prüfung ab, entsprechend ist in den Klassenzimmern viel los. Ein Augenschein vor Ort an einem Mittwochnachmittag.
Apfelbaumstrasse in Oerlikon. Hier findet jeden Mittwochnachmittag der Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) in Tamilisch statt. Das ist auch an den Lehrpersonen zu erkennen, die alle orangefarbene traditionelle Sari-Gewänder tragen. Eine von ihnen ist Vathsala Kanagasabai. Sie leitet die Schule, und zwar seit 20 Jahren. Sie hat die Übersicht über die Klassen, koordiniert die Stundenpläne, organisiert die Prüfungen und ist die Anlaufstelle für die zehn Lehrerinnen. Rund 85 Schülerinnen und Schüler lernen hier Tamilisch. «Vor der Pandemie waren es über hundert.» Im ganzen Kanton Zürich gibt es 19 Tamilisch-Schulen mit 760 Schülerinnen und Schülern. Schweizweit sind es 108 Schulen. Vathsala Kanagasabai bietet uns Mandarinen und Nüsse an. Danach führt sie uns durch die Klassenräume, in denen jeweils sechs bis zwölf Schülerinnen und Schüler sitzen. Nebst ihrem Ehrenamt an der Tamilisch-Schule arbeitet Kanagasabai als Pflegerin im Alterszentrum Hofwiesen. Ihre Kinder waren schon hier an der Schule, und nun besuchen ihre Enkel den Tamilisch-Unterricht in Oerlikon.
Eine der ältesten Schriftsprachen
Erstes Schulzimmer. Hier sind Erstklässer gerade dabei, Verse von Tirukkural aufzusagen. «Eines der wichtigsten Lehrgedichte der tamilischen Literatur», sagt Kanagasabai. Danach wird das Alphabet gebüffelt. Die Kinder in diesem Schulzimmer seien alle «Terzeros», also die dritte Generation von tamilischen Einwanderern. Auch Kanagasabais Enkelkind ist anwesend. Viele Eltern aus der zweiten Generation, also Secondos, schicken ihre Kinder in die Tamilisch-Schule, damit die Sprache weitergetragen werde, so Kanagasabai. Was ihr auffalle: Viele Secondos arbeiten so viel, dass sie keine Zeit hätten, ihre Kinder an die Apfelbaumstrasse zu begleiten. Manchmal würden die Kinder daher von den Grosseltern gebracht.
Kanagasabai holt ein Poster hervor und erklärt: «Das Alphabet der tamilischen Sprache umfasst 247 Zeichen.» Tamil ist eine der ältesten Schriftsprachen der Welt. Sie wird im Süden Indiens, in Sri Lanka, Singapur und Malaysia von mehr als 76 Millionen Menschen gesprochen.
Danksagung an gefallene Soldaten
Wir verlassen das erste Klassenzimmer und ziehen zum nächsten. Im Gang erklärt Kanagasabai, dass im Unterricht nicht nur die Sprache vermittelt werden soll, sondern auch die Traditionen, die Werte, die Geschichte. «Wir wollen unsere Kultur weitergeben.» Teilweise singen die Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Lektion ein Lied. Zum Beispiel, wenn jemand in der Klasse Geburtstag hat oder wenn ein tamilischer Feiertag ansteht. Manchmal wird auch der gefallenen Soldaten im Bürgerkrieg gedacht. Es ist eine Art Danksagung, auch wenn der Krieg seit mehr als zehn Jahren vorbei ist.
Wie findet das die 15-jährige Ashika? «Ich finde es gut, so vergessen wir nicht, warum unsere Eltern und Grosseltern geflohen sind.» Sie komme gerne am Mittwoch in die Schule, und zwar schon seit 12 Jahren. Dass ihre Schweizer Freundinnen am Mittwochnachmittag jeweils shoppen gehen oder sich sonst verabreden, während Ashika die Schulbank drückt, mache ihr nichts aus. «Ich habe hier in der Tamilisch-Schule auch viele Freunde und die Lehrpersonen sind wie eine Familie.» Später möchte sie einmal medizinische Praxisassistentin werden. In den nächsten drei Klassenzimmern sind die Schülerinnen und Schüler dabei, eine Prüfung zu schreiben. Immer am Ende des Jahres findet ein grosses Examen statt. Wir dürfen trotzdem stören. Die Kinder stehen immer auf zur Begrüssung. In einer Klasse singen sie sogar ein Ständchen. Ob das Examen schwierig ist? Kichern, Kopfschütteln.
Grosser Zusammenhalt unter Tamilen
In einem der Klassenzimmer halten die Schülerinnen und Schüler einen Vortrag. Es geht um die Gestaltung der Freizeit. Schwimmen, Fussballspielen, Zeichnen. Die Teenager scheinen aussergewöhnlich gehorsam zu sein. Ob sie sich vorstellen könnten, einmal nach Sri Lanka auszuwandern? «Vielleicht», sagt eine Schülerin etwas skeptisch. Dann zählt sie Argumente auf, die dafür sprechen könnten: Sie habe viele Verwandte und Freunde dort, und die Sprache könne sie auch mit jedem Jahr besser. Wie die meisten Kinder tamilischer Eltern kenne sie Sri Lanka aber nur aus den Ferien. Die anderen befragten Schülerinnen und Schüler bestätigen, dass ihre Familien enge Kontakte zu Sri Lanka und zur tamilischen Diaspora pflegen. Der Zusammenhalt unter den Tamilen scheint gross zu sein, auch über die Generationen hinweg.
Der Abend dämmert bereits, als sich die zehn Lehrpersonen im Gang zu einer Pause treffen. Eine Lehrerin sagt, dass es nicht immer einfach sei, Räume für den Unterricht zu bekommen. Vathsala Kanagasabai greift ein: «Wir sind aber sehr dankbar für jede Art der Unterstützung.» Es ist offensichtlich, wie viel ihr die Schule bedeutet. Die Zügel hält sie fest in der Hand. «In diese Schule fliesst mein Herzblut», sagt sie. Die Schülerinnen und Schüler würden sie Grossmutter nennen. Sie sagt: «Irgendwie ist es die Verantwortung der ersten Generation, dass die dritte Generation ihre Wurzeln nicht vergisst.»