Tasten, riechen und hören wie die Ameisen

Im Zyklus 1 steht das implizite Lernen im Vordergrund: Kinder eignen sich Fähigkeiten im Spiel an. Ein Augenschein in einem Kindergarten in Illnau, wo Studentin Fiona Whitesmith von der PH Zürich ihr Praktikum absolviert.

Es wuselt und raschelt unter dem braunen Tuch. «Wer könnte sich wohl da drunter verstecken?», fragt Praktikantin Fiona Whitesmith in die Runde. Die Kinder finden es schnell heraus: Es muss eine Ameise sein. Denn mit diesen kleinen Krabbeltieren haben sie sich in den letzten Wochen bereits ausgiebig befasst. Davon zeugen zahlreiche Zeichnungen, Fotos und Bastelarbeiten im Kindergartenzimmer. Die Ameise sei am Aufräumen, erklärt Whitesmith jetzt. Das sei aber schwierig, weil es im Haufen dunkel und stachlig sei. «Wollen wir sie einmal rufen?» Begeistert stimmen die Kinder in den Chor ein: «Aurora, Aurooraa!» Und tatsächlich streckt das Insekt aus Filz nun den Kopf unter dem Tuch hervor.

Es ist neun Uhr im Kindergarten Hagen in Illnau. Nachdem sich die Kinder eine halbe Stunde individuell beschäftigt haben, sind sie nun im Kreis zu einer gemeinsamen Lernsequenz versammelt. Das Thema Ameisen eignet sich bestens, um sich mit der Wahrnehmung auseinanderzusetzen: Im Ameisenhaufen können sich die Tiere nicht anhand der Augen orientieren, sondern benötigen andere Sinne. «Heute werden wir üben, damit wir es bald so gut wie die Ameisen können», erklärt Whitesmith und stimmt das Chribbel-Chrabbel-Lied an: «Alli tüend hälfe, niemert isch fuul …»

Ameisenhaufen im Kindergartenzimmer
Als kleine Einstimmung sollen die Kinder nun die Augen schliessen. Fiona Whitesmith legt jedem einen kleinen Tannenzweig in die Hand und lässt sie daran tasten, schnuppern und horchen, während sie mit den Fingern durch die Nadeln fahren. Die meisten identifizieren den Gegenstand rasch. Etwas anspruchsvoller wird die nächste Übung. Das ganze Kindergartenzimmer soll sich nun in einen Ameisenhaufen mit verschiedenen dunklen Höhlen verwandeln. Die Kinder bilden Dreiergruppen und bedecken je einen Tisch mit seitlich herabhängenden Tüchern. Danach suchen sie einen Gegenstand und legen ihn in ihre Höhle. Nun dürfen sie gegenseitig unter ihre Tische kriechen und entweder tasten, riechen oder hören, worum es sich handelt: Eine schnippende Schere, eine Wäscheklammer, ein Spitzer oder ein Glas mit Lavendelblüten.

Spielend lernen
Die Wahrnehmung ist einer von neun entwicklungsorientierten Zugängen, die gemäss Lehrplan 21 im Kindergarten gefördert werden sollen. Im ersten Zyklus, der sich vom Kindergarten bis in die zweite Klasse erstreckt, steht das beiläufige oder implizite Lernen im Vordergrund: Unter anderem spielen die Kinder, singen und hören Geschichten. Dabei eignen sie sich zahlreiche Fähigkeiten an, welche die Grundlage für das bewusste, explizite Lernen ab der dritten Klasse bilden. Indem sie zum Beispiel jeden Morgen gemeinsam die Anzahl anwesender Kinder zählen, lernen sie anhand einer praktischen Aufgabe die Zahlen bis mindestens 20 kennen. Diese Kenntnisse werden beim Eintritt in die erste Klasse vorausgesetzt und unter anderem im Fach Mathematik benötigt. An diesem Novembermorgen hat die Praktikantin den Fokus auf drei Aspekte der entwicklungsorientierten Zugänge gelegt: Neben der Wahrnehmung sind dies die Kommunikation und die Eigenständigkeit. Die Aufgabe mit dem Höhlenbau in Dreiergruppen verlangt den Kindern ab, dass sie sich miteinander absprechen sowie ein hohes Mass an selbstständigem Handeln entwickeln.

Heute steht das Thema Wahrnehmung auf dem Programm. Als Einstieg müssen alle Kinder die Augen schliessen und danach einen Gegenstand ertasten.

Freies Spiel braucht enge Führung
Fiona Whitesmith studiert an der PH Zürich im Studiengang Kindergarten- und Unterstufe im dritten Semester. Bereits seit dem Frühling absolviert sie ihr Praktikum in der Illnauer Klasse, zuerst an einzelnen Tagen und nun seit drei Wochen am Stück. Nahm sie anfangs eher eine zurückhaltende Rolle ein, so leitet sie mittlerweile ganze Halbtage, während Kindergartenlehrerin Tabea Stefanini beobachtet und mit ihr die Lektionen vor- und nachbespricht. Am Anfang der Kreissequenz hätten die Kinder gut zugehört und seien sehr fokussiert gewesen, meldet Tabea Stefanini ihrer Praktikantin zum Beispiel zurück. Doch bei der Gruppenaufgabe hätten einige eine engere Führung gebraucht. In solchen Situationen die Übersicht zu behalten, sei anspruchsvoll, weiss die erfahrene Lehrerin. «Wenn die Kinder zu blödeln beginnen, liegt es fast immer daran, dass sie entweder müde, unter- oder überfordert sind.» Dann müsse die Lehrperson eingreifen und einen Input geben. «Sonst schaukeln sich die Kinder gegenseitig hoch.»

Feinmotorik und Kommunikation üben
Auch während des Freispiels vor und nach der Lernsequenz ergeben sich stets zahlreiche Gelegenheiten, die neun entwicklungsorientierten Zugänge zu üben. Im Illnauer Kindergarten widmen sich zum Beispiel zwei Mädchen einer Webearbeit. Dies fördert die Feinmotorik. Andere Kinder malen, konstruieren Lego-Figuren oder formen Knetmasse, wobei sie neben der Feinmotorik auch ihre räumliche Orientierung schulen. Im Familienhaus verpassen sich einige der Kindergartenkinder gegenseitig Spritzen und hantieren mit Gesichtsmasken, während andere auf einem Tisch eine Art Landschaft mit Karton, Steinen, Ästen, Tannzapfen und weiteren Gegenständen gestalten und ihre selbst gebastelten Ameisen darin herumkrabbeln lassen. Wieder andere beschäftigen sich in Gruppen mit Gesellschaftsspielen wie Memory oder «Fang die Maus» – alles Situationen, die einer guten Kommunikation bedürfen.

Plötzlich beginnt ein Junge einen speziellen Rhythmus zu klatschen. Immer mehr Kinder stimmen mit ein. Sobald der Junge die ganze Aufmerksamkeit hat, formuliert er sein Anliegen: «Wer kommt mit mir spielen?» Auf einem Tisch hat er ein Brettspiel aufgebaut, bei dem es je nach gewürfelter Farbe unterschiedliche Früchte von Bäumen zu pflücken gilt. Der Junge liest drei Mitspielende aus, worauf alle ihre Beschäftigungen erneut aufnehmen. Kurz darauf beginnt ein anderer Junge den Rhythmus zu klatschen. Er möchte seine Stadt aus Holzklötzen mit dem hohen Turm und dem See präsentieren. Auch er darf drei interessierte Kinder auswählen. Mit dem Klatsch-Ritual sollen die Kommunikation untereinander sowie die Partizipation gefördert werden, erklärt Tabea Stefanini.

Die Kindergartenlehrerin hat ihre Ausbildung vor zehn Jahren gemacht, als der Lehrplan 21 noch kein Thema war. Unterdessen hat sie entsprechende Weiterbildungen besucht. Sie findet, das Unterrichten im Kindergarten sei kaum anders geworden seit der Einführung des kompetenzorientierten Lehrplans. Geändert hätten sich höchstens die Begrifflichkeiten. «Nun haben wir eine gemeinsame Sprache mit den Primarlehrpersonen gefunden. Das hilft beim Austausch.»

Beim freien Spielen benötigen viele Kinder immer wieder Unterstützung. Die Lehrerinnen widmen sich reihum den verschiedenen Gruppen, entschärfen Konflikte und geben Anregungen. Ein Mädchen hat zum Beispiel ein Tessiner Wappen gemalt, wie es der Lehrerin erklärt. «Könntest du mit deiner Zeichnung etwas spielen?», fragt diese. «Hast du Lust, ein Tessinerdorf zu bauen?» In einer anderen Ecke geraten zwei Kinder aneinander, weil eines sämtliche Blumen aus Moosgummi für sich beansprucht. Die Praktikantin ermahnt zum Teilen, bietet einem Jungen weitere Materialien an und schafft etwas Distanz zwischen den Streithähnen. Und auch das Aufräumen ist nicht für alle selbstverständlich. «Nein», antwortet ein Junge bei der ersten Aufforderung vehement. Doch Whitesmith bleibt beharrlich, bis er schliesslich seine Farbstifte ordentlich in den Becher zurückräumt.

Individuell anleiten
Viel Aufmerksamkeit fordert auch ein Junge mit einer stark ausgeprägten Autismus-Spektrum-Störung. Er benötigt eine individuelle Betreuung und bei den meisten Aufgaben eine Anpassung. Auch überfordern ihn immer wieder die vielen Reize im Zimmer, weshalb die Lehrerin ihn an der Hand nimmt und sich im Vorraum individuell mit ihm beschäftigt. Normalerweise ist Stefanini allein mit der Klasse. An diesem Morgen sind drei erwachsene Personen im Raum, weil auch noch die DaZ-Lehrerin anwesend ist. Diese arbeitet einerseits mit einzelnen Kindern im Rahmen des individuellen Spiels und vertieft mit ihnen die sprachliche Ebene. Andererseits holt sie immer wieder kleine Gruppen mit fremdsprachigen Kindern für einige Minuten in den Vorraum, um mit ihnen deutsche Begriffe zu üben.

Der Entwicklungsstand der Kinder sei sehr unterschiedlich, sagt Tabea Stefanini. Während einige schon lesen und schreiben können, müssen andere noch besser lernen, sich mündlich auszudrücken. Dass das Schuleintrittsalter in den letzten sechs Jahren um drei Monate gesenkt wurde, spiele bei den grossen Unterschieden eine Rolle, findet Stefanini. Ausschlaggebender seien aber die Erfahrungen, welche die Kinder von zuhause mitbringen. Um mit der Vielfalt in der Klasse umzugehen, brauche es eine sorgfältige Planung sowie regelmässige Beobachtung, erklärt Stefanini. «Dies macht den Beruf aber auch spannend und abwechslungsreich.»

Mittlerweile können sich alle selbstständig Jacke und Schuhe an- und ausziehen. Zu Beginn des Schuljahres musste Stefanini dies mit vielen üben. Zudem mussten sich die Kleinen daran gewöhnen, für einige Minuten stillzusitzen und zuzuhören. Durch anregende Lernsequenzen haben sie unterdessen gelernt, sich im Raum zu orientieren, für sich selbst zu sorgen, Freunde zu finden, zu kommunizieren, mit Frustrationen umzugehen und Regeln zu akzeptieren. «Alle sind gut im Kindergartenalltag angekommen», freut sich die Lehrerin.

Königinnen, Arbeiterinnen und Männchen
Im Illnauer Kindergarten neigt sich der Morgen inzwischen dem Ende zu. Die Kinder versammeln sich allmählich nochmals im Kreis. Einzelne zeigen stolz ihre Lego-Konstruktionen, während andere noch am Aufräumen sind. Als alle fertig sind, dürfen sie sich zum Schluss nochmals in Ameisen verwandeln. Fiona Whitesmith teilt die Klasse in drei Gruppen ein und schaltet ein Musikstück ein. Je nach Melodie erheben sich abwechselnd die Königinnen, die mit den Händen auf dem Kopf eine Krone bilden, die Arbeiterinnen, die heftig herumstapfen, und die fliegenden Männchen, die mit den Armen Flügel imitieren. Natürlich will jede Gruppe jede Gattung von Ameisen spielen. Und dann stimmen alle ins Schlusslied ein: «Jetz gömmer heihei, juppi juppi heihei.»