Im Kindergarten hat sich in den letzten Jahren vieles verändert. Der Lehrplan 21 formuliert konkrete Kompetenzen für die Stufe, gleichzeitig steigt die Heterogenität unter den Kindern. Dies stellt die Lehrpersonen im Berufsalltag vor neue Herausforderungen. Ein spielerischer Ansatz kann helfen, diese erfolgreich zu meistern.
Der Einstieg in das Thema könnte mit einer Problematisierung beginnen. Mit einem exemplarischen Beispiel, das zeigt, welchen Herausforderungen Lehrpersonen im Schulalltag heute begegnen. Etwa, dass die Kinder beim Eintritt in den Kindergarten immer jünger werden. Grund dafür ist eine Abstimmung aus dem Jahr 2008. Damals sprach sich das Stimmvolk des Kantons Zürich deutlich für eine Harmonisierung der Volksschule aus. Seither verschiebt sich der Stichtag jährlich: Kinder, die bis zu einem definierten Datum das vierte Altersjahr vollenden, treten jeweils im nächsten Schuljahr in den Kindergarten ein.
Statt mit Herausforderungen könnte der Einstieg aber auch mit Chancen beginnen. So eine Chance könnte sich etwa einer Kindergartenlehrperson bieten, die mit ihrer Klasse in neue Räumlichkeiten zieht. Als sie die hellen leeren Räume zum ersten Mal besichtigt, ist sie begeistert von deren Leichtigkeit. Sie denkt an die enge Garderobe, all die Möbel, Spielsachen und bunten Wände im alten Kindergarten. Und beschliesst, dieses Schuljahr alles etwas anders zu machen. Mit einem Klassenzimmer, das darauf wartet, neu bespielt zu werden.
Die zwei Beispiele zeigen: Gerade im Kindergarten ist das Spannungsfeld zwischen Herausforderungen und Chancen besonders gross. «Wenn es uns gelingt, den Unterricht auf dieser Stufe weiterzuentwickeln, werden wir sowohl einen Umgang finden mit den neuen Problemfeldern als auch neue Möglichkeiten nutzen können», sagt Catherine Lieger, Dozentin an der PH Zürich und Leiterin des vor Kurzem neu entwickelten Schwerpunktprogramms Elementarbildung, einem Programm, das den Fokus auf das spielerische Lernen bei Kindern zwischen vier und acht Jahren legt. Deshalb schlägt Lieger vor, die Kinder im Unterricht mehr spielen zu lassen. Aus dem einfachen Grund, dass das die Methode sei, mit der sie in diesem Alter am meisten lernen. Zusätzlich würde sich dadurch die bestehende Heterogenität verringern. Um eine optimale Spielumgebung einzurichten, brauche es einerseits entsprechende pädagogische Konzepte und Ideen und andererseits auch Räume, die deren Umsetzung zuliessen – Räume, in denen Unterrichtsmethoden neu gedacht und zusammengesetzt werden könnten (lesen Sie dazu das Interview mit dem Architekten Melk Nigg).
Vier bis fünf Förderaktivitäten pro Woche
«Wir haben vor Kurzem ein Projekt mit Kindergartenklassen abgeschlossen, das erforscht, wie Kinder eine Spielkultur entwickeln können», sagt Lieger. Die Erkenntnisse bestätigten die These, dass es wenig sinnvoll sei, mit den Kindern lange im Kreis zu sitzen. Zielführender sei es, wenn über das Spiel ein Weg zum Erleben und in eine Handlung gefunden werde. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Kinder im Schnitt pro Tag eine Stunde weniger spielen als noch vor fünfzehn Jahren. Haben sie verlernt zu spielen? «Teilweise schon», sagt Lieger. «Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Während die einen bereits in der Vorschulstufe vier bis fünf Hobbies pro Woche ausübten, hat bei anderen der Medienkonsum stark zugenommen.» Beides wirke sich nachteilig auf die Fähigkeit aus, frei zu spielen. Deshalb forscht die PH Zürich auch in dem Bereich, etwa wie sich die kindliche Playfulness entwickelt. Gemeint ist damit die Fähigkeit, Motivation und Freude von Kindern, sich auf das Spielen einzulassen. Eine Studie unter der Leitung von Corina Wustmann Seiler, Professorin für Pädagogische Psychologie an der PH Zürich, untersucht in Kooperation mit dem Marie Meierhofer Institut für das Kind das Spielverhalten von Kindern im Alter von zwei bis acht Jahren. Ein ähnliches Projekt läuft an der PH Zürich unter dem Namen «Spielen Plus». Die beiden noch laufenden Studien könnten wichtige Antworten auf Fragen der frühen Förderung und damit wertvolle Inputs für die Ausgestaltung der Lernarrangements in Bildungseinrichtungen liefern. Denn Spielen bezeichnet die vielleicht elementarste Form des Lernens: Kinder lernen im Spiel und spielen beim Lernen.
Wann soll denn noch spielerisch gelernt werden?
Doch wie sieht ein spielbasierter Unterricht im Alltag aus? Catherine Lieger empfiehlt, mit den Kindern so oft wie möglich in die Natur oder nach draussen zu gehen. Am einfachsten liessen sich Kinder dazu motivieren, wenn sie mit allen Sinnen erleben können – und auch einmal unverplante Zeitfenster geschenkt bekommen, die sie selbst füllen und in denen sie «mal schauen dürfen, was passiert». Selbstverständlich sei klar, dass die Lehrpersonen unter einem fachlichen Druck stünden. Denn der Lehrplan 21 schreibt neu auch im Zyklus 1 die zu erreichenden Kompetenzen und Fähigkeiten vor. Im Zweifelsfall könne es passieren, dass die Entscheidung eher auf die Erfüllung der Lernziele falle – mit den gewohnten Methoden. «Für diesen Fall haben wir ein Instrument mit ganz konkreten Hinweisen für den Unterricht entwickelt», sagt Lieger. Eine einfache Drehscheibe aus Papier dient dabei als Planungsinstrument. Zu den jeweiligen Fachbereichen gibt es zusätzliche Bildkarten, welche die Entwicklungsperspektive mit den einzelnen Fachbereichen verknüpfen. Das könne etwa zum besseren Verständnis in Elterngesprächen nützlich sein.
Einen spannenden Ansatz vertritt auch das «Churer Modell», das an der PH Zürich regelmässig als Weiterbildungsmodul angeboten wird. Es legt den Fokus auf die individualisierte Lernförderung und arbeitet ebenfalls mit der Struktur des Raumes. Die Kinder dürfen sich ihre Sitzplätze selbst aussuchen und die Aufgaben sind frei wählbar und unterschiedlich ausgestaltet. Jede Lektion beginnt mit einer viertelstündigen Input-Runde im Kreis. Danach schliessen sich die Kinder selbstständig in Lerngruppen zusammen.
«Es ist erfreulich, wie im Kindergarten in den letzten Jahren das Bewusstsein für die Fachdidaktik gewachsen ist», sagt Catherine Lieger. So würden die Kinder nun bereits hier in Mathematik gefördert. «Schwierig wird es jedoch dann, wenn dabei ein Themennachmittag stattfindet und klassische Übungsblätter ausgefüllt werden. So ist es beinahe unmöglich, spielerisch zu lernen», sagt Lieger. Eine Idee könnte zum Beispiel sein, die Förderung in das spielerische Lernen zu integrieren, etwa indem die Kinder bei einem Ausflug Kastanien sammeln. Anschliessend könnten sie einen eigenen Marronistand betreiben. Beim Verkauf und dem Abrechnen der Kasse werden die Lernziele auch erfüllt – ganz ohne Übungsblätter, sondern über eine Handlung.
«Es wäre wichtig, dass solche spielerischen Elemente auch in der Unterstufe eingesetzt werden», sagt Lieger. Denn mit dem Lehrplan 21 bilden der Kindergarten und die Unterstufe einen gemeinsamen Zyklus. Entsprechend sollten die Übergänge fliessend sein. Folglich schlägt Lieger vor, dass die Kinder in der Unterstufe mindestens eine Stunde pro Tag spielen könnten. Gemeint sei aber nicht ein Brettspiel oder ähnliches, sondern freies Spiel. So könnten eigene Ideen verwirklicht werden. Dafür brauche es die richtigen Materialien. In einer Klasse, die Lieger begleitet hat, wollten die Kinder etwa eine Rega-Station bauen. Eines führte zum Nächsten. Am Ende gab es neben dem Landeplatz für die Helikopter auch eine Krankenstation und eine Schule für Lawinensuchhunde.
Anschluss an Primarschule ermöglichen
Auch auf Ebene Schulentwicklung kann ein fliessender Übertritt vom Kindergarten in die erste Primarklasse gefördert werden. Etwa mit gemeinsamen Projekten, Theater- oder Themenwochen, bei denen die Kinder in altersgemischten Gruppen etwas erarbeiten. Gleichzeitig wird so auch ein Austausch zwischen den Lehrpersonen möglich. An der PH Zürich wird die Weiterentwicklung des Kindergartens ebenfalls bereits stark innerhalb des Zyklus 1 umgesetzt. Das sichtbarste Resultat ist hier etwa der Studiengang Kindergarten- und Unterstufe, der zu einer Lehrberechtigung für den Kindergarten und die Unterstufe führt. Die Ausbildung erfreut sich grosser Beliebtheit. Deren Leiterin, Elisabeth Hardegger, sagt: «Wir brauchen die besten Lehrpersonen ganz zu Beginn der schulischen Laufbahn von Kindern.» Denn sie seien es, die das Fundament legen für das, was später folgen wird. «In dieser Hinsicht ist auch die Sprachförderung enorm wichtig», sagt Hardegger. Es gebe Klassen, da sprechen bei der Einschulung bis zu 40 Prozent der Kinder kein Deutsch. Die unterschiedlichen sprachlichen Kenntnisse stellten die Kindergartenlehrpersonen vor Herausforderungen.
Ab der ersten Klasse der Primarschule gibt es für solche Fälle spezielle Klassen, in denen fremdsprachige Kinder Deutsch lernen. Kindergartenlehrpersonen müssen diese Aufgaben mit der Unterstützung einer DaZ-Lehrperson selbst stemmen. Die gute Nachricht ist hier: In diesem Alter machen Kinder enorm schnell sprachliche Fortschritte. Studien zeigen, dass mit der alltagsintegrierten Sprachförderung die Deutschkompetenzen rasch zunehmen. Dennoch fehle oft die sogenannte Bildungssprache. Die Art und Weise, wie die Kinder sich ausdrücken könnten, sei stark milieubedingt. Wer aus einem bildungsnahen Elternhaus kommt, hat sprachlich bessere Voraussetzungen und höhere Chancen auf Schulerfolg. Der Kindergartenstufe fällt deshalb die anspruchsvolle, aber enorm wertvolle Aufgabe zu, die Kinder möglichst auf ein Niveau zu bringen, das ihnen den Anschluss an die Primarschule ermögliche. Aus diesem Grund lernen die Studierenden an der PH Zürich, wie sie in der Gestaltung des Unterrichts der Heterogenität in einer Kindergartenklasse gerecht werden können. Es brauche dafür Beobachtungskompetenzen und hohe diagnostische Fähigkeiten. «Im Mittelpunkt steht dabei der Fokus auf die Stärken eines Kindes», sagt Hardegger. Deshalb werde schon in der Ausbildung versucht, eine stark ressourcenorientierte Perspektive auf das Kind zu vermitteln. Bei dieser stehe nicht das Defizit im Zentrum, sondern das Kind und seine Stärken.
Ãœbergang in den Kindergarten nahe begleiten
Ein bewährtes Arbeitsinstrument dafür ist das Lernjournal. Dieses helfe auch den Lehrpersonen, sich immer wieder auf die Stärken der jeweiligen Kinder zu konzentrieren, sagt Corina Wustmann Seiler. In der Praxis wird das Lernjournal Portfolio genannt. Gemeint sind damit Bildungs- und Lerngeschichten etwa in Form einer Mappe mit Dokumenten und Fotos. Festgehalten werden Situationen und Dinge wie Zeichnungen oder Schriftstücke, die exemplarisch einen Fortschritt des Kindes festhalten und verdeutlichen. Gerade auch im Kontakt zu den Eltern ermöglicht das Portfolio einen positiven Übergang von Zuhause oder von der Kita in den ersten Zyklus. Ein Projekt dazu auf Stufe frühkindliche Bildung wurde vor einigen Jahren vom Marie Meierhofer Institut für das Kind initiiert. Mittlerweile gebe es immer mehr Kindertagesstätten, die damit arbeiten, sagt Wustmann Seiler. Dies sei erfreulich, denn wie sensibel der Übergang in den Kindergarten sei, habe sich auch bei der Einschulung während der Corona-Pandemie gezeigt, als zuerst nicht klar war, ob die Eltern ihre Kinder am ersten Schultag begleiten dürfen. Die Vorstellung, das eigene Kind diesen wichtigen Schritt von Beginn an alleine machen zu lassen, hat zu einer grossen Verunsicherung geführt. Denn anders als in der Kita, wo die Eingewöhnung schrittweise und über einen längeren Zeitraum erfolgt, geht es im Kindergarten sehr schnell. Deshalb sei es hilfreich, wenn sich die Lehrpersonen in den ersten Wochen und Monaten viel Zeit nehmen und die Anforderungen individuell an die einzelnen Kinder anpassen. Und vor allem: die Ziele nicht zu hoch setzen. Dieses Vorgehen sei auch in Anbetracht der Tatsache sinnvoll, dass die Kinder bei der Einschulung jünger sind und die Heterogenität der Klassen auch in anderen Bereichen steige.
«Nicht zu vergessen ist die Eingewöhnung in den Hort», sagt Wustmann. Eine klare Übergangsgestaltung helfe dem Kind, sich zurechtzufinden (siehe Box am Ende dieses Artikels). Ganz allgemein seien Übergänge für Kinder immer dann leichter zu bewältigen, wenn sie im Voraus wüssten, was auf sie zukomme. So werden die Dinge kontrollierbar und die Kinder fühlen sich in einem sicheren Rahmen aufgehoben.