
Von Ritualen spricht man, wenn diese normativ festgesetzt sind und eine ordnende Wirkung auf die Personen und Gruppe haben, die sie durchführen. So gesehen leben wir alle mehr oder weniger von und mit Ritualen.
Meine erste Handlung zu Beginn eines Tages fällt wohl auch unter die Kategorie der Rituale: Kaffee und jeweils eine kalte und eine warme «Schoggi» zubereiten für unsere beiden Teenager. Das Treffen am Küchentisch ist ein Ritual und wird je nach Situation von mehr oder weniger Unterhaltung begleitet. Mit dem Herauswachsen unserer beiden Töchter aus den Kinderschuhen sind im Verlauf der Jahre viele Rituale wieder verschwunden: der Adventskalender im Wohnzimmer, der Besuch des Samichlaus, der Spaziergang zum nahen Bach. Nur eines ist geblieben: das Verstecken eines Osternests. Meine persönlichen Rituale haben an einem kleinen Ort Platz, da keine Woche, kein Tag wie der andere ist. Das Treffen am Küchentisch zur frühen Morgenstunde oder das Lesen eines Buches vor dem Einschlafen sind aber sicher kleine Rituale, die meinen Tag einrahmen. Früher, als ich noch als Klassenlehrerin arbeitete, waren mir Rituale mit den Schülerinnen und Schülern sehr wichtig: Jeden Morgen trafen wir uns im Kreis und starteten mit einem Spiel in den Tag. Das hat uns verbunden und die heiteren Minuten haben uns für den gemeinsamen Schultag stark gemacht.

Was Rituale angeht, die meine Tage rahmen, strukturieren oder gar produktiver machen könnten, besteht bei mir Entwicklungsbedarf. Vieles habe ich schon versucht: Yoga-Anfängerübungen am Morgen, quer durch die Stadt nach Hause laufen, «bike to work» hin und zurück. Mach ich alles ganz gerne, doch leider nie so regelmässig, dass es Ritualqualität hätte. Gelungen ist mir aber die Etablierung eines Rituals, das über mehrere Wochen läuft: Ich wähle ein mir noch unvertrautes Kurzreiseziel in der Schweiz aus und buche schon mal die Unterkunft. Dann setzt die wichtigste Phase ein: Ich lese zu meinem Reiseziel Geschichten. Die Vorfreude zieht mich dann auch durch anstrengende Tage, und die Geschichten geben mir das Gefühl, etwas ein bisschen besser zu verstehen. Das hat sogar 2020 ganz gut funktioniert. Nur auf die St. Petersinsel habe ich es nicht mehr geschafft. Aber man braucht ja Ziele im Leben.

Angefangen hat alles im Winter vor vier Jahren: Es war kalt, das Klassenzimmer schlecht geheizt und die pubertierenden Lernenden entzogen sich scheinbar eingefroren dem Unterricht. So schleppte ich einen Teekocher und verschiedene Teesorten herbei und motivierte meine «Pappenheimer», in den Pausen Tee zu kochen. Seither gehört das Teetrinken in meinen Klassen zum alltäglichen Ritual: Einige kommen morgens früher, um während des Teekochens noch zu quatschen. Andere kosten aus, dass der Gang zur Tee-Ecke während der Lernphasen eine willkommene Denkpause darstellt, und Gewisse schnuppern einfach gern an ihren dampfenden Tassen, egal ob diese nun nach marokkanischer Minze, Granatapfel oder Alpenkräuter duften. Und wenn die unregelmässigen Französischverben uns einmal mehr an den Rand des Wahnsinns treiben, unterbrechen wir ungeniert: Restez calmes et buvez du thé!