Leyla wächst als Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden in Deutschland auf. Die Sommer der Kindheit verbringt sie im Norden Syriens bei Grossmutter und Cousinen: Hitze in paradiesischen Gemüsegärten, Fahrradfahrten zwischen donnernden Lastwagen, Nächte auf Hochbetten im Freien.
In dieser Familiengemeinschaft ist Leyla behütet und zugleich früh schon Geschichten von Vertreibung, Massakern, Flucht und Unsicherheit ausgesetzt. Seit den 1960er-Jahren sind ihre Verwandten staatenlos, adschnadi – Spielbälle der regionalen Politik.
Auf den arabischen Frühling folgt der erste Sommer, in dem Leyla nicht nach Syrien reist. Bald spricht man nur noch von Krieg und nicht mehr von Revolution. Der Vater widmet jede freie Minute den Nachrichtensendungen, die Mutter bestürmt die Ämter, um die Familienmitglieder nach Deutschland in Sicherheit zu bringen. Währenddessen ist Leyla in der Pubertät, entdeckt den Alkohol und ihre Sexualität, beginnt ein Studium in einer anderen Stadt. Sie findet die erste grosse Liebe, teilt Intimität und stürzt doch in die Einsamkeit. Die Welt ihrer Familie ist weit weg und selbst mit ihrer Freundin nicht teilbar.
Leylas Wahrnehmung und ihre innere Zuständen bestimmen Rhythmus und Tempo des Erzählens: auf die kontemplative Ruhe der Sommermonate in der Kindheit folgt die Rastlosigkeit eines suchenden Teenagers und schliesslich die Verzweiflung der Trennung und der Machtlosigkeit, aus 4000 Kilometern Distanz das Schicksal einer Familie, eines Volkes, eines Landes auszuhalten; die Schuldgefühle der eigenen Sicherheit und Privilegien lähmen die junge Studentin. Selbst die Ankunft der Grossmutter in Deutschland führt nicht zu einem versöhnlichen Happy End. Drei Monaten später stirbt sie und tritt im Sarg ihre letzte Reise zurück ins Dorf in Kurdistan an – zu einer Beerdigung unter lebensgefährlichen Umständen.
Der 27-jährigen Ronya Othmann ist ein erstaunliches Buch gelungen, voller äusserer und innerer Bilder, Zustands- und Milieubeschreibungen und einem überraschenden Plot. Erzählt aus der Perspektive der hochsensiblen Leyla vermittelt die Autorin poetisch die Lebensumstände einer im Westen kaum wahrgenommenen Volksgemeinschaft. In Stil und Haltung sachlich-nüchtern und zugleich von grosser persönlicher Wärme: ein absolut verblüffender Romanerstling.