Anna-Tina Hess: Es war in einem Praktikum, als ich zum ersten Mal Noten verteilen musste. Die Klasse hatte im Französischunterricht den Auftrag, selbstständig eine Szene in einem Restaurant einzuüben und diese anschliessend vorzuspielen. Die Lernziele und das Bewertungsraster erhielten die Schülerinnen und Schüler von mir frühzeitig und in schriftlicher Form.
Die Restaurantszene wurde mehrmals während der Lektionen geübt. Dann kam der Tag der Prüfung. Die Schülerinnen und Schüler legten sich zum Teil richtig ins Zeug. Sie verkleideten sich und brachten sogar selbstgebastelte Menükarten mit. Es war eine Freude. Ganz im Gegensatz zu ihrem Französisch. Das war eine regelrechte Katastrophe. Ich verstand teilweise kaum ein Wort. Die Sätze waren kreuzverkehrt und der grammatikalische Fokus ging komplett unter. Als ich mich hinsetzte, um die Noten zu verteilen, war die Bilanz ernüchternd. Die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler kam mit dem Bewertungsraster nicht auf eine genügende Note, denn das Raster zielte vor allem auf die Sprache und nicht auf die Spielfreude und den Gestaltungswillen ab. Es hagelte 2.5er und 3er am Laufmeter. Ich brachte es aber schlicht nicht übers Herz, solch schlechte Noten zu verteilen. Also passte ich, unter dem Zähneknirschen meiner Praxislehrerin, den Notenschlüssel an. Sie versicherte mir: «Das werden sie dir nie vergessen.» Auch ich habe dieses Erlebnis bis heute nicht vergessen. Es hat mir gezeigt, dass auch der Umgang mit Bewertungsrastern gelernt sein will. Das gilt für die Schülerinnen und Schüler genauso wie für Lehrpersonen.
Georg Gindely: Noch nie wurde eine Prüfung so streng bewertet wie dieser Englischtest. Die Korrektur war knallhart und es hagelte Ungenügende. Eingang ins Zeugnis fanden sie nicht. Denn für einmal war nicht ich der Korrektor, sondern die Schülerinnen und Schüler zückten den Rotstift. Ich hatte ihnen den Auftrag erteilt, im Vorfeld einer Englischprüfung selbst einen Test zu kreieren, den nachher eine Kollegin, ein Kollege lösen musste. Für die Notenberechnung teilte ich der Klasse die Formel mit, die von uns Lehrpersonen meist verwendet wird: Anzahl erzielter Punkte mal 5 durch Anzahl möglicher Punkte. Zählt man zum Resultat die Zahl 1 hinzu, hat man die Note. Die Übung machte allen Spass, doch es war ein Fehler von mir, der Klasse die Formel zu verraten. Bei gewissen Tests ist diese zwar erstaunlich treffsicher, aber überall funktioniert sie nicht. Zum Beispiel bei einem Deutschtest, bei dem ich Gross- und Kleinschreibung prüfte und bei der man 170 Punkte holen konnte. Gemäss der Formel hätte man mit 102 Punkten (also 68 Fehlern) noch eine 4 gemacht. Ich fabrizierte daraufhin eine eigene Skala, die in meinen Augen die Leistung richtig widerspiegelte. Als ich die Prüfung zurückgab, wurden zuerst Taschenrechner gezückt, anschliessend hagelte es Proteste. Es dauerte lange, bis sich die Klasse beruhigt hatte und ich ihnen klarmachen konnte, dass Noten nicht immer auf die gleiche Weise verteilt werden können. Eine Formel macht es zwar einfacher, aber auch gefährlich, weil man so tut, als wäre Notengeben eine exakte Wissenschaft. Das ist es nicht – was das Leben als Lehrperson nicht gerade einfacher macht.