Gesellschaftliche Trends verändern sich. Pädagogische Konzepte entwickeln sich weiter. Gebäude aber überdauern viele Jahre. Wie sollte ein Kindergarten gebaut sein, der auch noch in einigen Jahrzehnten zeitgemäss ist? Der Architekt Melk Nigg weiss es.
Herr Nigg, wir stehen vor dem Kindergarten Binzmühle. Ein filigranes Gebäude in der Nähe des Bahnhofs Rotkreuz, das sofort ins Auge fällt. War das Absicht?
Melk Nigg: Ja. Der Kindergarten soll sofort als solcher erkennbar sein. Mein Ziel ist es, dass er sich fundamental von der Umgebung unterscheidet. Denn in einem Kindergarten geht er weit über die Funktion hinaus. Er symbolisiert den Eintritt in das Schulsystem und somit ein Stück weit auch in die Gesellschaft. Die Kinder sollen gleich merken: Das ist für uns! Das Gebäude soll warm und einladend sein und es ihnen dadurch erleichtern, selbstständig zu werden und von den Eltern Abschied zu nehmen.
Ist diese Schwelle einmal überschritten, werden die Kinder von einem grosszügigen Raum empfangen, in dessen Mitte sich eine Wendeltreppe erhebt. Ist das die Sonne – oder glänzt der Boden?
Es ist tatsächlich eine erhebliche Menge goldener Glitzer eingearbeitet. (Lacht)
Warum?
Sehen Sie, ich baue ja eigentlich für die Kinder. Gehen sie mal ein paar Stunden auf den Knien. Sie werden sehen, dass sich die Optik erheblich unterscheidet. Der Boden wird wichtiger – und der Himmel, weshalb auch die Fenster essenziell sind. Die erstrecken sich hier vom Boden bis zur Decke.
Zudem sieht man durch runde Dachluken in der Decke in den Himmel. Der Eingangsbereich ist so gross, dass hier problemlos eine Kindergartenklasse auf dem Boden liegen oder Gymnastik machen könnte.
Sie könnten auch ein Theater aufführen und das Publikum auf die Wendeltreppe sitzen lassen. Oder ein Weihnachtssingen mitsamt Eltern abhalten. Genau darum geht es: undefinierte Räume. Diese sollen von den Kindern eingenommen werden. Und ihnen die Möglichkeit bieten, ihre Kreativität auszuleben. Damit es für die Lehrpersonen auch angenehm ist, haben wir in der Decke dämpfende Akustikelemente eingebaut. So kommen die Kinder am Morgen schon in einer ganz anderen Stimmung an, was den Start in den Tag extrem erleichtert.
Das klingt, als hätten Sie bei der Planung auch mit Lehrpersonen gesprochen.
Selbstverständlich! Ich habe viele Stunden physisch als stiller Beobachter in Kindergärten verbracht. Dabei habe ich versucht zu verstehen, was da passiert. Auch im privaten Umfeld philosophierten wir viel über die Beziehung zwischen Kind und Raum. Befreundete Lehrerinnen und Lehrer haben mir berichtet, was ihnen wichtig ist und wie sie arbeiten.
Ihre Erkenntnisse haben Sie letztendlich wieder in den Bau fliessen lassen. Was hat Ihre Architektur sonst noch beeinflusst?
Ich schaue natürlich immer auch zurück in die Geschichte. Was hat sich traditionell bewährt? Dazu gehören hochwertige, regionale und natürliche Materialien. Kinder spüren die Energie eines Hauses – und auch Dinge, wie etwa ein grosszügiges Vordach, damit der Wechsel von innen nach aussen fliessend verläuft. Ausserdem lässt sich eine Veranda auch als gedeckter Aussenraum wunderbar nutzen. Zum Beispiel, um mit den Kindern zu basteln oder zu malen. Dabei könnte man auch gleich das nur wenige Schritte entfernte Bächlein miteinbeziehen, das wir wieder aus dem alten Lauf hervorgeholt haben.
Der Aussenraum ist für Sie quasi auch Gebäude?
Ja, unbedingt! Ein besonderer Glücksfall ist in diesem Fall hier das angrenzende Naturschutzgebiet. Sehen Sie den Weiher dort unten? Da gibt es sogar einen Biber. Wir haben das Gebäude nach der Morgensonne ausgerichtet und vom Dorfkern leicht versetzt platziert. So werden die Kinder weniger abgelenkt. Da sich die Fensterfronten an einigen Stellen komplett öffnen lassen, eröffnet sich im Sommer nochmals ein Mehrfaches an Platz.
Und die Kinder können draussen sinnliche Erfahrungen machen?
Exakt. Ich bin selbst sehr gerne in der Natur. Wandere regelmässig in den Alpen. Schlafe unter freiem Himmel. Diese Verbindung möchte ich auch den Kindern im Aussenraum ermöglichen. Wie fühlt sich die Oberfläche eines nassen Steines an? Wie die eines trockenen? Wie riecht grünes Holz im Frühling? Wie klingt Sommerregen nach einem Wolkenbruch? All das soll ihnen auch das Gebäude vermitteln. Gerade dort, wo das vielleicht im familiären Umfeld fehlt, können diese Erfahrungen auch im Kindergarten gemacht werden.
Manchmal hört man von Neubauprojekten, dass es lange gehe, bis die räumlichen Möglichkeiten von den Bewohnerinnen und Bewohnern auch wirklich genutzt werden. Wie ist das im Falle eines Kindergartens?
Das kann ich nicht vollends beurteilen. Ich übergebe das Objekt ja an die Schulen und damit an die Lehrpersonen und die vielen jungen Persönlichkeiten. Es kann schon ein paar Jahre dauern, bis sich gewisse Ecken etablieren. Aber das Schöne bei der Architektur ist ja: Sie hat Zeit. Die Pädagogik verändert sich in den kommenden 50 Jahren vielleicht. Ebenso der Zeitgeist. Aber das Gebäude bleibt. Im besten Fall habe ich es so gebaut, dass es mit den Veränderungen optimal mitwächst.
Pflegen Sie Rituale, wenn Sie ein Projekt abschliessen?
Ich versuche eine rollende Übergabe zu machen. Das bedeutet in der Regel, dass ich die Kinder schon mit auf die Baustelle nehme. Ihnen alles zeige. Ihre Fragen beantworte. Das wiederholen wir dann im Laufe der Arbeiten nochmals, damit sie die Entwicklung mitverfolgen können. Wenn sie dann «einziehen», übergebe ich ihnen auch den Raum. Und hoffe, ihnen damit ein Geschenk gemacht zu haben.
Der «Chill-Egge» ist sicher so eines. Er befindet sich unter dem Dach und erinnert an einen Adlerhorst.
Unter den tiefen Schrägen können sich die Kinder einerseits zurückziehen. Der Blick von der Galerie auf das Geschehen im Raum verschafft ihnen auch einen Überblick. So können sie einen Moment Ruhe geniessen, sind aber nicht ganz alleine. Selbstverständlich darf hier auch das Fenster nicht fehlen. Doch auch hier vermittelt das Vordach ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit.
Zum Schluss: Sie sagten vorhin, dass die Gebäude die Zeit überdauern. Was hilft dabei, dass sie das möglichst würdevoll tun?
Sicher ist es so, dass nicht ich es bin, der den Innenräumen Farbe gibt. Sondern die werden von den Kindern gestaltet. Ich eröffne nur Gelegenheiten, wie sie etwa ihre Zeichnungen anbringen können. Das heisst also: keine fixen bunten Elemente. Ausserdem sind die Wände so gebaut, dass man sie im Laufe der Jahre auch modular verschieben könnte. Je nachdem, was Kinder und Lehrpersonen brauchen. Weiter helfen schlichtes Design, klare Formen und natürliche Materialien dabei, dass der Kindergarten wechselnde Geschmäcker und Trends überdauert.