Mein Vater kehrte nach Hause zurück, ich wanderte aus

«Jagt sie weg! Die Schwarzenbach-Initiative und die italienischen Migranten.» (Orell Füssli, 2020)

Concetto Vecchio wuchs in den 1970er-Jahren als Kind italienischer Arbeitsmigranten im Kanton Aargau auf, «Wir sind E-mi-gran-ten» skandierte sein Vater, «Fremde». Der kleine Concetto aber wollte kein «Fremder» sein: «Auch ich will Roland, Thomas oder Markus heissen, stattdessen habt ihr mir diesen hässlichen Namen gegeben, den nur ich trage.» Ein Name, den die Schweizer Lehrerin gleich eindeutschte – «Konzetto», rief sie ihn. Das bei ihr Gelernte wollte der Junge stolz seiner Mutter zeigen. Doch wenn er auf der Strasse in Lenzburg der Mutter die Texte auf Werbeplakaten laut vorlas, ermahnte sie ihn: «Psst, geben wir uns den Svizzerazzi nicht zu erkennen, sonst kommt Schwarzenbach!»

Der Autor wurde im gleichen Jahr geboren, in dem die Ãœberfremdungsinitiative (heute meist Schwarzenbach-Initiative genannt) an die Schweizer Urne kam. 1968 lanciert, erhielt sie in wenigen Monaten über 70’000 Unterschriften. Der Vordenker und das politische Gesicht dieser Initiative war James Schwarzenbach, Parlamentarier der Nationalen Aktion, ein Politik-Neuling aus schwerreichem Industriellen-Haus, ein weit rechts stehender Intellektueller. Medien, Wirtschaft und alle anderen Parteien lehnten die Initiative ab – und trotzdem stimmten 46% der Schweizer Männer (bei einer Rekordstimmbeteiligung von 74%) für die Initiative. James Schwarzenbach, begnadeter Rhetoriker, dem wenige bei öffentlichen Diskussionen Paroli bieten konnten, wurde zu einem politischen Phänomen, einem Star, der die Medien weit über die Schweiz hinaus interessierte. Rechtspopulist avant la lettre, manche (und er selber auch) nannten ihn einen Faschisten – ein Tabubruch in vielen Ländern Europas 25 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs.

Ein politischer Senkrechtstarter. Seine enorme Popularität, seine vielen Anhänger und die xenophobe Hetzkampagne mit Langzeitwirkung zeigten die Schweiz in einem schlechten Licht. Die Ãœberfremdungsinitiative wollte die Ausländerzahl proportional zur Schweizer Bevölkerung plafonieren – mit dem Resultat, dass 300’000 Arbeitsmigrantinnen und Migranten, hauptsächlich aus Italien, ausgewiesen worden wären. Arbeitskräfte, die in der Hochkonjunkturzeit mehr als willkommen waren und massgeblich zum Schweizer Wohlstand beitrugen. Zur Zeit der Initiative war die Arbeitslosigkeit bei 0% – und doch schaffte Schwarzenbach es, die Ängste um den Arbeitsplatz bei den Arbeitern und KMUs derart zu schüren, dass im Abstimmungskampf sogar die Gewerkschaften gespalten waren. Die Ausländer wurden auch für Wohnungsnot und teure Mieten verantwortlich gemacht, obwohl viele von ihnen in Baracken oder prekären Untermietverhältnissen wohnten.

Das im letzten Jahr im italienischen Original Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi erschienene Buch liegt nun in der deutschen Übersetzung vor. Ein Zeitdokument. Erst für dieses Buch konnte der Autor mit den Eltern über die Migration sprechen, über die Armut in Sizilien, die ärztlichen Untersuchungen an der Schweizer Grenze und das Leben in einem Land, in dem sie angefeindet wurden. Diese autobiografischen Passagen sind ebenso dicht wie erschreckend. Die Gespräche mit den Eltern erinnern an Art Spiegelmans Treffen mit seinem Vater, einem Holocaustüberlebenden, in den Maus-Comics: die Schwierigkeit, mit den Eltern über die Demütigungen der Vergangenheit zu sprechen, das Schweigen, die Scham der Herkunft, die zwanghafte Dankbarkeit der Opfer: «Schreib nichts Schlechtes über die Schweiz», ermahnt die Mutter Concetto Vecchio am Telefon.

Vecchio zeigt in vielfältigen Beispielen, welchen Erniedrigungen Arbeitsmigranten ausgesetzt waren: das Wohnen in Baracken auf engstem Raum mit Schimmel an den Wänden, Besuchsverbote in den eigenen vier Wänden. Der Autor ermöglicht mit diesem Buch Erinnerung und Erinnerungspolitik. Wir schauen zurück in die Geschichte und blicken in die aktuelle Gegenwart. Die Juchhof-Baracken in Zürich, in denen Saisonniers wohnten, wurden 40 Jahre später Notunterkünfte für Geflüchtete.

Die Italiener kurbelten die Industrie und Wirtschaft an und doch wurden sie beschimpft. «Sau-Tschingg!», so wurden auch die beiden italienischen Männer angebrüllt, die in St. Moritz und in Zürich von Schweizern derart verprügelt wurden, dass sie ihren Verletzungen erlagen. Die Mörder kamen mit unbedeutenden Haftstrafen davon. Zweiklassenjustiz. Heute erscheint es geschichtsvergessen oder zynisch, wenn es in Zürich Restaurants gibt, die «Tschingg» heissen. Italienerinnen und Italiener, die zur Zeit der Schwarzenbach-Initiative in der Schweiz lebten, würden wohl kaum ein solches Lokal betreten. Aber mit dem sogenannten T-Wort kann heute in der Zürcher Gastroszene Geld verdient werden. Von der Fremdenfeindlichkeit auf direktem Weg in den neoliberalen Kapitalismus – ohne den beschwerlichen Weg einer historischen und politischen Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte.

Neben den alltäglichen Erniedrigungen wurde den Arbeitern, die als Konjunkturpuffer nur neunmonatige Saisonnierverträge bekamen, das Recht auf die Einheit der Familie und damit ein fundamentales Menschenrecht verweigert. Männer kamen ohne ihre Frauen (selten Frauen ohne ihre Männer), Eltern ohne ihre Kinder. Die Kinder wuchsen bei Verwandten in Italien oder in Heimen nahe der Schweizer Grenze auf – oder sie wurden (wie in Vincenzo Todiscos Roman Das Eidechsenkind) in der Schweizer Wohnung versteckt. Kinder ohne Kindheit und ohne das Recht auf Bildung.

Das war nur möglich, weil Schweizer und italienische Behörden über viele Jahrzehnte eng zusammenarbeiteten. Italien war nach dem Zweiten Weltkrieg von grosser Armut betroffen, die Schweiz befand sich im Aufschwung des sich abzeichnenden Wirtschaftswunders. Die ungleichen Nachbarländer unterzeichneten in den 1950er-Jahren ein Abkommen, das die Migration regelte. So schaffte Italien etwas Armut aus dem Land und im Gegenzug flossen Milliarden in Form von Remissen der Migranten zurück – und die Schweiz bekam die dringend benötigten Arbeitskräfte. Etwas später, in der Hochblüte des Kalten Krieges, arbeiteten die beiden Länder zusammen in der Bespitzelung und Verfolgung der Arbeiter, die unter Kommunismusverdacht standen. Parlamentarier der kommunistischen Partei PCI erhielten Einreiseverbot, und wer die kommunistische Tageszeitung L’Unità las, wurde in manchen Schweizer Cafés nicht bedient.

Für politisch und historisch Interessierte ist dieses Buch Pflichtlektüre: autobiografische Passagen, persönliche Verarbeitungen, gründlich recherchiert in italienischen und Schweizer Quellen, Verweise und Zitate aus den diskursprägenden Büchern und Filmen von Marina Frigerio, Toni Ricciardi, Angelo Maiolino und Alexander Seiler.

Herbe Ironie des Schicksals: Was Schwarzenbach nicht schaffte, erreichte wenige Jahre später die Ölkrise. Tausende Migrantinnen und Migranten verloren ihre Stellen und mussten die Schweiz verlassen.

Concetto Vecchio lebt heute in Rom und ist Polit-Journalist für die italienische Tageszeitung La Repubblica. 1985, als er 14 Jahre alt war, beschlossen die Eltern, die Schweiz zu verlassen und nach Sizilien zurückzukehren. «Mein Vater wollte nie ein Wort Deutsch lernen. Das Emigrantendasein war für ihn bitter wie ein Exil. Sobald er konnte, ist er zurück in seinen Heimatort. (…) Er kehrte nach Hause zurück, ich wanderte aus».

Ein Hinweis: Die Arbeitsgemeinschaft [ké*sarà], gegründet vom Sozialanthropologen Rohit Jain, dem Theaterschaffenden Tim Zulauf und der Historikerin Paola De Martin, nimmt das Gedenkjahr zur Ablehnung der Schwarzenbach-Initiative zum Anlass für ein künstlerisch-ethnografisches Langzeitprojekt. Zur Website

Concetto Vecchio.
Jagt sie weg! Die Schwarzenbach-Initiative und die italienischen Migranten.
Aus dem Italienischen von Walter Kögler.
Zürich: Orell Füssli, 2020. 224 Seiten.