An einer guten Schule führt nicht nur die Schulleitung. Vielmehr übernehmen hier auch Lehr- und Fachpersonen Führungsaufgaben. Dazu braucht es ein starkes Gefühl der gemeinschaftlichen Verantwortung und ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Kompetenzen und Interessen aller Beteiligten.
Was macht eine gute Schulführung aus? Diese Frage sollte nicht nur auf das Handeln der Schulleitung abzielen. Denn eine gute Schule wird nie von dieser allein, sondern immer gemeinschaftlich geführt. «Schule und Lernen sind viel zu komplex, als dass eine Person oder eine Co-Leitung an der Spitze einer Schule diese alleine führen könnte», sagt Hansjürg Brauchli, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Weiterbildungszentrum Management und Leadership der PH Zürich. Beim Lernen gehe es um Beziehungsarbeit, da könne die Schulleitung beispielsweise nicht bloss die richtigen Tools zur Verfügung stellen und von oben herab führen. Auch könne eine Person oder ein Leitungsduo alleine nie über das gesamte Wissen verfügen, das es brauche, um eine heutige Schule mit den zahlreichen Anforderungen von individuellem Lernen über integrativen Unterricht, digitalen Wandel oder den Umgang mit Diversität bis zu Neuerungen wie dem Lehrplan 21 zu führen.
Dass eine Person oder ein Leitungsteam eine Institution wie die Schule allein führt, ist denn auch ein Mythos. Führungsaufgaben und Verantwortungen wurden an einer Schule schon immer verteilt, ob bewusst oder unbewusst. Dabei hat die Volksschule eine interessante Entwicklung durchlaufen. Bevor an den Schulen offizielle Leitungen etabliert wurden, mussten die Lehrpersonen zahlreiche Führungsfragen gemeinsam regeln. Schulhausregeln oder Prinzipien der gelebten Kultur wurden formell oder informell im Team ausgemacht, Verantwortungen für die Pausenaufsicht oder schulübergreifende Projekte gemeinsam geregelt und verteilt. Als dann mit den Schulleitungen eine offizielle Führungsposition geschaffen wurde, kam es vielerorts zu Verunsicherungen über die Zuständigkeiten: Konnte eine Lehrperson eine Anschaffung noch ohne das Einverständnis der Schulleitung tätigen und war sie nach wie vor mitverantwortlich für das Geschehen auf dem Pausenplatz? Zudem habe die neue Hierarchiestufe zum Teil zu einem kompletten Delegieren nach oben von zuvor gemeinschaftlich gelösten Aufgaben geführt, so Hansjürg Brauchli. Manche Lehrpersonen hätten sich gesagt: «Wenn die Schulleitung schon da ist, soll sie auch Verantwortung übernehmen.» Zugleich haben sich an Schweizer Schulen neben der Schulleitung neue Formen von Führung etabliert, die als Teacher Leadership bezeichnet werden. Bei dieser verteilten Führung übernehmen Lehr- und Fachpersonen an ihrer Schule Führungsaufgaben und nehmen über ihre Kernaufgabe im Klassenzimmer hinaus Einfluss
auf die pädagogische Praxis.
Einfluss nehmen auf andere
«Im Kontakt mit Schulen merken wir, dass der Begriff Teacher Leadership vielen Lehrpersonen noch nicht bekannt ist, die Idee dahinter hingegen schon», sagt Brauchli. Häufig werden dann themen- oder funktionsbezogene Führungsaufgaben genannt, etwa von ICT-, Gesundheits- oder Umweltbeauftragten. Dabei eignet sich eine Lehrperson gezielt Wissen und Kompetenzen zu einem Thema an, um dieses an der Schule einzubringen. Zunehmend haben sich an den Schulen auch funktionsbezogene Führungspositionen etabliert wie Stufen- oder Zyklusbeauftragte, die eine Art Schnittstelle zwischen Zyklus oder Stufe und Schulleitung darstellen und sich auf beiden Ebenen in die pädagogische Entwicklung einbringen. Auch professionsbezogene Führungsaufgaben wie das Mentoring von jüngeren Teammitgliedern oder eine Verantwortung für die pädagogische Schulentwicklung sind Beispiele für Teacher Leadership von Lehr- und Fachpersonen.
Dabei ist entscheidend, dass Lehrpersonen mit einer Führungsrolle diese auch tatsächlich wahrnehmen und Verantwortung auf einem Gebiet übernehmen. Dass dies nicht immer geschieht, konnte Nina Strauss, die am Weiterbildungszentrum Management und Leadership der PH Zürich unterrichtet, beobachten. Für ihre Dissertation zur verteilten Führung sprach sie mit Lehrpersonen im Kanton Zürich, die an ihrer Schule die Aufgabe einer Umweltbeauftragten übernommen haben. «In den Gesprächen bezeichneten sich mehrere als Hüter oder Hüterin des Themas», erzählt Strauss. Diese Lehrpersonen hatten sich zwar eine grosse Expertise zu Umweltthemen erarbeitet und Unterrichtsmaterial und interessante Angebote zusammengestellt. Doch trugen sie dieses nicht proaktiv an ihr Team heran und stiessen Diskussionen und Entwicklungen an, sondern warteten darauf, dass Kolleginnen und Kollegen bei ihnen nachfragten.
Dabei geht gemäss Strauss nicht nur viel Potenzial verloren. Auch hat ein solch passives Verhalten wenig mit Führung zu tun. «Denn Führung bedeutet, dass man Einfluss nimmt auf andere, auf die pädagogische Praxis in der Schule, um letztlich das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu stärken», sagt Strauss. Doch im Schulfeld, wo Autonomie und Parität wichtige Werte darstellen, fällt das den Lehr- und Fachpersonen zum Teil schwer. «Traditionell haben die Lehrpersonen grossen Respekt vor der Autonomie ihrer Kolleginnen und Kollegen», so Strauss. Je nach Schulkultur und persönlicher Überzeugung halten sich Lehrpersonen nach wie vor zurück, ihre Expertise aktiv an Kolleginnen und Kollegen heranzutragen und ihnen Tipps oder Rückmeldungen zu ihrem Unterricht zu geben. Schliesslich haben Lehrpersonen grundsätzlich die gleiche Aufgabe und die gleiche Ausbildung und stehen auf derselben Hierarchiestufe.
Herausfordernd ist auch der Grundsatz der Methodenfreiheit und dass das Vorgehen von Lehrpersonen bei der Berufsausübung im Vergleich zu anderen Berufsgruppen nicht klar definiert ist. Strauss weist darauf hin, dass Lehrpersonen heute immer seltener alleine im Klassenzimmer unterrichten und junge Lehrpersonen stärker auf Teamwork und eine enge Zusammenarbeit mit anderen Fachpersonen hin ausgebildet werden. Doch dürfe man Teacher Leadership nicht mit Kooperation verwechseln. Führung übernehmen geht über den Austausch hinaus und bedeutet, wo nötig Kritik anzubringen und im Team an bestimmte Verbindlichkeiten zu erinnern. Kennt sich eine Lehrperson beispielsweise besonders gut mit Begabungen aus, kann sie nicht nur Förderkonzepte für die Schule entwickeln. Als Teacher Leader weist sie ihre Kolleginnen und Kollegen auch auf Verbesserungsmöglichkeiten in ihrer Praxis hin und unterstützt sie bei der Umsetzung.
Gemeinschaft statt delegierte Verantwortung
Damit Lehr- und Fachpersonen Führungsaufgaben wahrnehmen und sich ihre Kolleginnen und Kollegen führen lassen, braucht es an einer Schule nicht nur eine gesunde Fehler- und Kritikkultur, sondern auch ein Bewusstsein, dass nicht alle Lehrpersonen gleich sind. Genauso wie Schülerinnen und Schüler heute individuell gefördert werden, haben auch Lehrpersonen trotz ihrer ähnlichen Ausbildung sehr unterschiedliche Stärken und Interessen. Eine gute Schulleitung erkennt diese und fördert Lehrpersonen gezielt, unter anderem mit Weiterbildungen, um in einem Team unterschiedliche Kompetenzen aufzubauen. Nicht zuletzt muss sie dann zulassen, dass eine andere Person vorne steht und aufgrund ihrer Expertise die Führung übernimmt. Dabei zeigt sich ein klares Muster: Je sicherer sich eine Schulleitung in ihrem Handeln fühlt, desto einfacher kann sie Verantwortung teilen und abgeben.
Letztlich braucht es auch einen klaren Rahmen, damit Lehrpersonen mit einer Zusatzfunktion an ihrer Schule wirklich etwas bewegen können. Bei Sitzungen etwa können Inputs von Führungsverantwortlichen als festes Traktandum eingeplant werden. Und dank dem neu definierten Berufsauftrag kann der zeitliche Aufwand für eine Führungsaufgabe in der Jahresarbeitszeit einfacher offiziell festgehalten und honoriert werden.
Wenn in einem Team einzelne Lehrpersonen Führung übernehmen, heisst das nicht, dass andere Lehrpersonen ihre Verantwortung auf diesem Gebiet einfach abgeben können. Denn zahlreiche Aufgaben an einer Schule wie die Gesundheitsförderung oder Gewaltprävention können nur gemeinschaftlich gelöst werden. So kann weder die Schulleitung noch ein Gesundheitsverantwortlicher bei 40 Mitarbeitenden stets wissen, wie es allen geht. Vielmehr braucht es für alle Formen von Teacher Leadership ein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung. Dazu gehört, dass eine Lehrperson einen Kollegen anspricht, wenn sie den Eindruck hat, dass dieser sich übernimmt, oder dass sie hinschaut, wenn sie in der Klasse einer Kollegin Mobbing beobachtet. Zu den zentralen Aspekten einer guten Schulführung gehört deshalb die Entwicklung eines echten Gemeinschaftsgefühls, das alle Ebenen von der Schulbehörde über die Schulleitung bis zu den Schülerinnen und Schülern durchdringt. Letztlich sollten sich alle Beteiligten für das Geschehen an ihrer Schule verantwortlich fühlen und wissen, dass sie sich einbringen können.
Dass sich Führung über die formellen Führungsrollen hinaus verteilt, zeigen soziale Netzwerkanalysen, die das soziale Miteinander an Schulen untersuchen und neben der Vernetzung auch zeigen, wer an einer Schule Wirkung erzielt und bei wem Rat eingeholt wird. «Diese tatsächliche Führungsverteilung ist nicht unbedingt deckungsgleich
mit den offiziellen Verteilungen in den Organigrammen», erklärt Strauss. Allerdings sei noch zu wenig erforscht, wie genau Führung an den Schulen verteilt werde und wie solche Aushandlungsprozesse zielführend gestaltet werden können. Denn auch wenn sich Formen von Teacher Leadership an den Schulen immer stärker etablieren, steht die Forschung dazu noch ziemlich am Anfang. Klar ist für Strauss jedoch: «Eine gute Verteilung von Führung ist nie in Stein gemeisselt, sondern wird ständig neu ausgehandelt.»
Führungsverteilung auf allen Ebenen
Die Frage, wie Führung verteilt wird, stellt sich nicht nur auf der Ebene des Lehrpersonenteams, sondern ebenso in der Zusammenarbeit mit den Behörden. Grundsätzlich ist die Schulpflege heute für die strategische Führung und die Schulleitung für die operative Führung zuständig. «Doch diese Bereiche lassen sich bei vielen Fragen nicht trennscharf unterscheiden», sagt Andrea Hugelshofer, Dozentin am Weiterbildungszentrum Leadership und Management der PH Zürich. Sie betont, dass Schulpflege und Schulleitung wichtige Entscheide immer im Dialog mit der anderen Seite treffen sollten. So ist es beispielweise nicht zielführend, wenn eine Schulpflege wichtige Grundsatzentscheide über die Zuteilung von Schulkindern oder gar eine Zusammenlegung von Schulhäusern ohne Einbezug der Schulleitungen trifft. Umgekehrt sollte eine Schulleitung, die an ihrer Schule neue pädagogische Formen wie alternative Beurteilungsformen ausprobiert, schon früh genug den Austausch mit der Schulbehörde als Bindeglied zur Bevölkerung suchen. «Wenn wichtige Entwicklungen an einer Schule nicht im Dialog mit der Behörde entstehen, kann es schnell zu Machtkonflikten kommen», sagt Andrea Hugelshofer, die selbst Mitglied einer Kreisschulpflege in
Winterthur ist.
Dabei müssen gar nicht zwingend widersprüchliche Haltungen, die sich nicht vereinbaren lassen, vorliegen. Vielmehr geht es gemäss Hugelshofer darum, ein Verständnis für neue Ideen und dahinter liegende pädagogische Konzepte zu schaffen. Denn Schulpflegen können als Laiengremium nicht immer auf dem neuesten Stand sein, was pädagogische Entwicklungen angeht. Mit dem Ziel, den Austausch der Behörden und Schulleitungen weiter zu verbessern, bietet die PH Zürich seit diesem Jahr regelmässig kompakte Weiterbildungsformate für Schulbehördenmitglieder an. (Siehe Box am Ende des Artikels).
Um die zunehmende Komplexität der Schule meistern zu können, wurde unlängst die gesetzliche Basis für eine zusätzliche Hierarchiestufe geschaffen. Ab 2021 können grössere Gemeinden im Kanton Zürich offiziell eine «Leitung Bildung» einsetzen, welche die Schulbehörde entlasten soll, wodurch sich diese stärker auf ihre Kernaufgabe konzentrieren kann: die Frage, welche Schule ihre Gemeinde eigentlich will. «Ich hoffe sehr, dass die Leitungen Bildung nicht nur organisatorisch tätig sind, sondern die verschiedenen Akteure noch näher zusammenbringen », sagt Hugelshofer. Auch könnte eine Leitung Bildung die Kompetenzen der einzelnen Schulleitungen zugunsten der Schulentwicklung in der ganzen Gemeinde nutzen. Ein aktuelles Beispiel wäre etwa, dass eine konzeptionell starke Schulleitung ein Grundgerüst für ein Corona-Schutzkonzept erstellt, das andere Schulen nutzen und weiterentwickeln können. Auch das ist
sinnvoll verteilte Führung.
Das Beispiel zeigt, dass verteilte Führung keineswegs mehr Zeit kosten muss. Denn geführt wird nicht gemeinsam, also zweispurig, sondern gemeinschaftlich. Auch können die Schülerinnen und Schüler nur davon
profitieren, wenn sich einzelne Lehr- oder Fachpersonen mit einem Thema oder einer Aufgabe an ihrer Schule intensiv auseinandersetzen und ihre Expertise weitergeben. Letztlich trägt die Verteilung von Führung auch zur Chancengerechtigkeit bei. Wenn ein Team die pädagogische Verantwortung gemeinschaftlich trägt und Werte und Praxis der Einzelnen auf den Tisch kommen, führt dies zu einer Verbesserung und einem Angleichen der Unterrichtsqualität.