Vom Kindergartenkind bis zum Teenager – eine Schule für alle

Vor einem Jahr hat die Schule Limmat das Tagesschulmodell eingeführt. Die Organisation des Betriebs mit drei verschiedenen Schulstufen war eine Herausforderung. Doch die Anstrengungen haben sich gelohnt: Den Kindern ist es wohl in der Schule.

Fotos: Niklaus Spoerri

Bereits um 11 Uhr riecht es in den Gängen des Schulhauses Limmat verführerisch. In der Küche im Untergeschoss geht es geschäftig zu und her. Denn in einer Stunde muss das Essen für etwa 200 Kinder bereit sein. Seit einem Jahr ist die Schule in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs eine Tagesschule. Das heisst, dass ein Grossteil der Kinder über Mittag in der Schule isst und viele auch nach Unterrichtsende noch bleiben.

Punkt zwölf Uhr hallt der Gong durch die Gänge. Kurz darauf strömen die Kinder die Treppe hinunter und nehmen ihre Plätze an einem Achtertisch ein. Ein Teller mit Rüebli- und Gurkenstücken steht schon bereit. Emma hat heute Geburtstag. Ein Betreuer zündet eine Zauberkerze an, während alle zusammen laut «Happy Birthday» singen. Darauf lassen sich die Kinder beim Wagen, der die Speisen warm hält, ihre Teller voll schöpfen. Heute stehen Basmatireis und Thaicurry auf dem Menüplan – wahlweise mit Pouletfleisch oder Gemüse. Dazu gibt es grünen Salat, Orangenstücke und Apfelkuchen. Einige Kinder trauen dem leicht asiatisch riechenden Gericht nicht so ganz über den Weg und begnügen sich mit dem Reis.

Mehr Zeit mit Freunden
«Das Essen ist meist o.k.», sagt der 12-jährige Dante. Doch daheim sei es natürlich schon besser. Hingegen gefällt es dem Sechstklässler, dass er den Mittag mit seinen Kollegen verbringen kann. Nachher gehen die Jungs meist in den Rangelraum, den die Betreuung eingerichtet hat. «Dort ist es am coolsten», findet Dante. Auch Mia und Merle toben sich gern dort aus. Den Viertklässlerinnen schmeckt das Essen meistens – besonders wenn es von der eigenen Küche zubereitet wurde. Dies ist im Limmatschulhaus etwa zur Hälfte der Zeit der Fall. Der andere Teil wird von der Zürcher Firma menuandmore angeliefert.

Auch Thalia schätzt es, dass sie mit dem Tagesschulbetrieb mehr Zeit hat, mit ihren Freundinnen zu plaudern. Beim Essen sitzen manchmal auch Lehrpersonen mit am Tisch. «Das fanden wir am Anfang schon etwas komisch», räumt die Drittsekundarschülerin ein. Aber eigentlich sei es gut, dass man miteinander ins Gespräch komme und sich mal von einer anderen Seite erlebe. Nach dem Essen legt sie sich meist ein wenig auf die Kissen im Ruheraum, während andere Jugendliche im geräumigen Korridor Pingpong-Rundlauf spielen oder sich im Aufenthaltsraum mit Billard oder Tischfussball vergnügen. «Da ist es mir zu laut», sagt Thalia. Einige Sek-Schülerinnen und -Schüler entspannen sich auch auf den Sitzgruppen und schauen auf ihr Mobiltelefon. Ab Sek-Stufe dürfen sie es über Mittag zur Hand nehmen.

Deutlicher Volksentscheid
Die Schule Limmat nimmt an der zweiten Pilotphase des Stadtzürcher Projekts Tagesschule 2025 teil. 2016 und 2017 haben die ersten sechs Schulen mit der Umsetzung begonnen und ab 2022 sollen sämtliche rund 100 Schulen etappenweise umstellen. Die Bevölkerung hat im Juni 2018 mit einer deutlichen Mehrheit von 77 Prozent einen Kredit bewilligt von rund 75 Millionen Franken für die zweite Phase, die bis 2022 dauert. Mit dem Betrag werden bauliche Anpassungen sowie Vorbereitungsarbeiten wie etwa Projektsitzungen und Weiterbildungen realisiert. Zudem werden die Kosten für die Projektsteuerung und für den zusätzlichen Betreuungsaufwand gedeckt.

Gemäss dem Stadtzürcher Modell verbringen die Kinder den Mittag immer in der Schule, wenn sie am Nachmittag Unterricht haben. Je nach Altersstufe ist dies an zwei bis vier Tagen der Fall. Die Eltern zahlen 6 Franken pro Mittag. Zusätzliche Betreuungszeiten ab 7 Uhr morgens und nachmittags bis 18 Uhr müssen separat gebucht werden.

Viele Ältere wollen Mittag selber gestalten Neben der Schule Leutschenbach ist die Schule Limmat bis jetzt die einzige, bei der alle Stufen vom Kindergarten bis zur Sekundarschule beteiligt sind. Die Sekundarschule hat den Quims-Status. Zudem werden hier jugendliche Asylbewerber des benachbarten Bundesasylzentrums unterrichtet. Das breite Spektrum mache den Tagesschulbetrieb besonders anspruchsvoll, sagt Schulleiterin Stefanie Scholz. «Die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich.» Um den Lärmpegel beim Essen in Grenzen zu halten, werden die verschiedenen Gruppen auf mehrere Räume verteilt. Einige essen zum Beispiel in ihren Aufenthaltsräumen. Während die Kleinsten im ersten Kindergartenjahr eine ganze Stunde Zeit haben und sich danach auf einer Liege bei einer Geschichte ausruhen, schlingen die Grösseren das Essen zum Teil schnell hinunter, damit Zeit zum Spielen bleibt. Die Sekundarschülerinnen und -schüler dürfen das Areal verlassen. Viele gehen etwas einkaufen, einige auch kurz heim.

Familien, die zuhause miteinander essen, dürfen ihre Kinder abmelden. Bei den Primarschülerinnen und -schülern kommt dies jedoch nur in Ausnahmefällen vor. Anders bei den Sekundarschülerinnen und -schülern. Mit zunehmendem Alter suchen sie immer mehr Freiraum und manche verbringen die Mittagspause lieber selbstständig. Zudem sei das Angebot an Schnellverpflegung in der Umgebung grösser als bei anderen Schulhäusern, erklärt Stefanie Scholz. Burger, Pizza und Döner seien für einige verlockender als die gesunden Speisen in der Schule.

Eigentlich müssten die Eltern ihre Kinder aktiv abmelden, wenn sie das Tagesschulangebot nicht in Anspruch nehmen wollen, und zwar für das ganze Jahr. In besonderen Situationen komme man den Eltern aber manchmal entgegen, sagt Scholz. Zum Beispiel, wenn ein Vater oder eine Mutter arbeitslos werden und zuhause kochen.

Vielfältige Angebote
Mit drei altehrwürdigen, grosszügigen Schulhausgebäuden von Anfang 20. Jahrhundert ist die Schule Limmat vergleichsweise gut bedient. Hier, mitten im Zentrum von Zürich, sind genügend Räume für diverse Aktivitäten und Altersgruppen vorhanden. Jede Stufe hat dabei einen eigenen Aufenthaltsraum sowie einen Ruheraum. Für Bewegung stehen der Pausenplatz und die Turnhalle zur Verfügung. Und in der warmen Jahreszeit kann man auf einer Terrasse sitzen oder sogar draussen essen.

Doch all diese Angebote müssen auch begleitet werden. Neben dem Betreuungsteam übernehmen Lehrpersonen diese Aufgabe. Sie können sich stundenweise zur Verfügung stellen, um beim Essen dabei zu sein oder eine Aktivität anzubieten, müssen aber nicht. «Die Lehrpersonen brauchen auch Pausen», betont Schulleiter Thomas Federspiel. «Wenn jemand sowieso schon einen achtstündigen Arbeitstag hat, soll er nicht auch noch den Mittag mit den Kindern verbringen müssen.» Die Lehrpersonen haben zudem einen eigenen Ruheraum zur Verfügung, in dem sie sich erholen können.

Betreuung besser einbezogen
Ein Vorteil des neuen Modells sei, dass Betreuung und Lehrbetrieb stärker zusammengewachsen seien, sagt Stefanie Scholz. Dazu trägt sie selber viel bei: Die ehemalige Leiterin Betreuung hat sich zur Schulleiterin weitergebildet und nimmt nun die Rolle eines Bindeglieds zwischen den beiden Berufsgruppen wahr. «Wir beide vom Leitungsteam leben eine gute Zusammenarbeit vor», sagt ihr Kollege Thomas Federspiel. Früher hätten die verschiedenen Haltungen der beiden Berufsgruppen manchmal zu Spannungen geführt, fügt Scholz hinzu. In der Schule Limmat werden die Betreuungsfachpersonen mittlerweile in viele schulische Aktivitäten miteinbezogen: Bei Bedarf sind sie bei Elterngesprächen dabei oder geben vorgängig eine Einschätzung des Kindes ab. Sie sind in der Steuergruppe vertreten und nehmen wenn sinnvoll an Weiterbildungen teil.

Bis die Zusammenarbeit aller Beteiligten gut funktionierte, sei aber viel Vorbereitung nötig gewesen, sagt Federspiel. Nachdem die Stadtzürcher dem Projekt zugestimmt hatten, blieb lediglich ein gutes Jahr für Weiterbildungs- und Teambildungsanlässe, die Information der Eltern sowie die Organisation der diversen Angebote. Eine Besonderheit in der Schule Limmat war, dass die Mittel- und Unterstufe bereits zuvor gemäss dem ehemaligen Tagesschul-Modell geführt wurde. Somit war bereits viel Erfahrung in der Ganztagesbetreuung vorhanden. Für das betroffene Personal war der Übergang zum neuen Modell jedoch eine Herausforderung. Nicht ganz reibungslos sei auch die Zusammenführung der verschiedenen Stufen mit ihren je eigenen Kulturen verlaufen, räumt der Schulleiter ein. Ganz bewusst hat das Leitungsteam deshalb einen zentralen, gemütlichen Teamraum eingerichtet, in dem alle in der Zehnuhrpause zusammenkommen können zum Kaffeetrinken.

Dass der Übergang mehrheitlich geglückt ist, bestätigt die kürzlich erfolgte Schulevaluation. Bei den Befragungen im Januar zeigte sich ein grundsätzlich hohes Wohlbefi nden der Kinder und Jugendlichen. Die Fachstelle für Schulbeurteilung traf an der Schule Limmat eine lebendige Gemeinschaft an, bei der das Miteinander im Zentrum stehe. Optimierungsbedarf sahen die Fachpersonen beim einheitlichen Umsetzen von Regeln in Betreuung und Schule. Auch empfahlen sie einen sorgfältigen Umgang mit der Belastung der Mitarbeitenden.

Yoga und Spiele am Nachmittag
Im Schulhaus ist der Nachmittagsunterricht zu Ende. Wieder erklingt der Gong. Kinder, die noch nicht nach Hause gehen, erhalten nun einen Zvieri – meist Früchte, Crackers und manchmal etwas Bündnerfl eisch. Danach warten nochmals diverse Beschäftigungsangebote auf sie. Einige arbeiten an ihren Wochenplänen, andere leben ihren Bewegungsdrang in der Turnhalle aus.

Im Betreuungszimmer der Kindergartenkinder ist es dunkel. Sie haben die Vorhänge gezogen und tummeln sich in Höhlen, die sie mit Sitzwürfeln und Matten gebaut haben, oder nehmen ein Bad im Becken mit Plastikbällen. Derweil findet im Vorführungssaal im Obergeschoss eine Yogalektion statt. 20 Unterstufenkinder sitzen im Schneidersitz auf Matten im Kreis, den Rücken gerade, die Hand auf dem Bauch. Sie atmen durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, während der Yogalehrer langsam mitzählt. Danach nehmen die Kinder typische Yogastellungen ein: Der herabschauende Hund, die Kobra oder die Katze – nur alles etwas dynamischer als man es vom Erwachsenenyoga her kennt. Bald wird die Matte zum Surfbrett. Die kleinen Yogis befinden sich nun auf dem Meer, surfen über die Wellen, werfen das Bord herum und weichen den Haien aus. «Ich habe schon öfters zuhause mit dem Mami Yoga gemacht», sagt Jelena. «So kann ich mich gut von der Schule erholen.»

«Nun legen wir einen Schwerpunkt auf die soziale Interaktion»

Wie für alle Schulen kam die Schliessung aufgrund der Corona-Krise auch in der Schule Limmat überraschend. Die Lehrpersonen fanden Wege, auch im Fernunterricht Kontakt zu den Kindern zu pflegen. Die Schulleitenden Stefanie Scholz und Thomas Federspiel erzählen, wie sie diese Zeit erlebt haben.

Drei Wochen nachdem «Akzente» bei Ihnen zu Besuch war, wurden die Schulen geschlossen.Waren Sie darauf vorbereitet?
Scholz: Natürlich hatten wir bereits von Schulschliessungen im Tessin und in Italien gehört. Aber dass es dann so schnell ging – damit hatten wir nicht gerechnet.

Wie haben Sie sich organisiert?
Scholz: Nach dem Entscheid vom 13. März waren wir von der Schulleitung das ganze Wochenende über am Planen. Am Montag darauf trafen sich alle Lehrpersonen in der Aula zu einer Sitzung. Danach arbeiteten aber alle von zuhause aus und hielten jede Woche ein Online-Meeting ab.
Federspiel: Für den Fernunterricht mussten wir die Mailadressen aller Eltern zusammentragen und die Kinder beim Einrichten eigener Adressen unterstützen. Schülerinnen und Schüler, die zuhause keinen Computer haben, konnten in der Schule einen abholen. Zudem stellten wir schnell eine interne Plattform zur Verfügung, wo man Dokumente hochladen kann.

Wie gut kamen die Lehrpersonen mit der neuen Situation zurecht?
Federspiel: Einige zeigten sich von Anfang an sehr kreativ und kontaktierten ihre Klassen bereits am Montag. Andere brauchten etwas länger. Wir empfahlen unserem Team, nicht zu viele Aufträge zu erteilen, sondern vor allem den Kontakt zu den Kindern aufrechtzuerhalten. Die Lehrpersonen telefonierten zum Teil täglich mit Schülerinnen und Schülern, die mehr Unterstützung brauchten.
Scholz: Ich war überrascht, wie schnell wir in den neuen Modus hineingewachsen sind. Die Kinder erhielten Stundenpläne, die ihnen eine Tagesstruktur gewährten. Sogar die Betreuung engagierte sich. Zum Beispiel las sie über Video jeden Tag ein Märchen vor.

Als Tagesschule haben Sie wohl viele Kinder, deren Eltern arbeiten müssen. Waren die Kinder auf sich alleine gestellt?
Scholz: Nein, die Eltern haben sich untereinander gut organisiert. Wir haben zwar eine Notfallbetreuung angeboten, aber bis Ende April hat sie niemand in Anspruch genommen.

Jetzt, Anfang Juni, können Sie bereits auf vier Wochen Halbklassenunterricht zurückblicken. Wie ist der Schulbetrieb wieder angelaufen?
Scholz: Einige Kinder haben sehr gut gearbeitet im Fernunterricht, bei anderen mussten wir Lernrückstände feststellen.
Federspiel: Es hat sich als sinnvoll erwiesen, zuerst einmal mit den halben Klassen zu starten. Die Kinder müssen sich wieder an den Schulalltag und die Klassendynamik gewöhnen. Wir sind froh, dass der Zeugnisdruck weggefallen ist und wir jetzt einen Schwerpunkt auf die soziale Interaktion legen können. Diese ist in den letzten Wochen zu kurz gekommen.