Mein erstes Schuljahr

Anna-Tina Hess und Georg Gindely
Illustrationen: Elisabeth Moch

Anna-Tina Hess: Wir wollen heute zurückblicken. Auf das Jahr, das war. Genauer das Schuljahr, das war. In 1500 Zeichen? Unmöglich. Ein Jahr so kurz zusammengefasst, ist kein Jahr. Wobei, wenn ich es mir recht überlege, waren Zusammenfassungen lange Zeit mein täglich Brot.

Bevor ich Lehrerin wurde, verlas ich Nachrichten im Radio. Eine Meldung in 20 Sekunden. Den ganzen Nahostkonflikt in fünf Sätzen. Eben. Unmöglich. Nun gut. Ich will es trotzdem versuchen in «Nachrichtenmanier»: Eine 40-jährige Quereinsteigerin hatte vor einem Jahr ihre erste Arbeitsstelle an einer Tagesschule angetreten. Wie sie auf Anfrage sagte, sei der Einstieg sehr streng, aber gut verlaufen. Im Dezember habe sie zum ersten Mal eine Woche Ferien gemacht. Es sei mit Ausnahme von Ostern die einzige Woche in diesem Jahr gewesen. Kurz vor Ostern hatte der Bundesrat nämlich die Schulen wegen eines Virus namens Covid19 geschlossen. Laut einer zuverlässigen Quelle habe die Lehrerin dann auch keine Wochenenden mehr gehabt. Unbestätigten Angaben zufolge war dies aber bereits vor dem Lockdown häufig der Fall. Die Frühlingsferien seien ebenfalls keine Ferien gewesen, denn sie habe Arbeiten schreiben, Fernunterricht vorbereiten und auf die Prüfungen lernen müssen, so die Lehrerin auf Anfrage. Wenige Wochen vor den Sommerferien hatte der Bundesrat entschieden, die Schulen wieder zu öffnen. Es sei ein verrücktes Jahr gewesen, aber auch ein sehr lehrreiches, schreibt die Lehrerin in einer abschliessenden Stellungnahme. Sie freue sich nun auf ihre ersten langen Ferien. Und nun zum Wetter …

Georg Gindely: Die Santa Maria, die Niña und die Pinta stechen in See, dazu erklingen die pompösen Synthesizerfanfaren von Vangelis, und man sieht Gérard Depardieu als Kolumbus und seine Crew, wie sie voller Tatendrang Richtung Horizont blicken. Mit diesem Filmausschnitt aus «1492» begann ich mein erstes Schuljahr als Lehrer. Er schien mir passend, weil meine Klasse – eine erste Sek – und ich ja auch zu einer grossen Reise ins Unbekannte aufbrachen. Ausklingen liess ich mein erstes Schuljahr ebenfalls mit einer Seereise, diesmal mit der Odyssee, deren Kurzfassung ich der Klasse vorlas. Dieser Abschluss war weniger bewusst gewählt als Kolumbus zu Beginn, aber scheint mir jetzt, im Rückblick, fast noch passender.

Denn das erste Schuljahr glich in vielerlei Hinsicht einer Irrfahrt. Da war zuerst einmal meine mangelnde Erfahrung, die unser Schiff immer wieder auf unsicheren Kurs führte. Meine Schiffscrew musste sich zudem zuerst finden und war zu Beginn in ständig wechselnde Grüppchen zersplittert, was unser Boot auseinanderzureissen drohte. Und da war das Corona-Virus, das uns wochenlang stranden liess.

Aber diese Erlebnisse schweissten uns auch zusammen. Und so schufen wir uns, verteilt über das ganze Schuljahr, unseren eigenen Film, unsere eigene Geschichte. Fanfaren wie zu Beginn sind nicht mehr zu hören, der Alltag ist eingekehrt. Aber mit ihm auch gegenseitiges Vertrauen, und das ist wichtiger als pompöse Musik. Denn unsere Reise dauert noch zwei Jahre, und im Gegensatz zu Odysseus möchte ich nicht alleine am Ziel ankommen, sondern mit allen zusammen ein Happy End feiern.

Anna-Tina Hess und Georg Gindely studieren seit Herbst 2018 im Quereinstieg an der PH Zürich. Zuvor waren beide als Journalisten tätig. Sie schreiben an dieser Stelle über ihre ersten Erfahrungen in der Schule und an der PH Zürich.