Patricia Schär forscht an der PH Zürich über Gender und Diversity. Im Interview erläutert sie die im Lehrplan 21 geforderte Kompetenz, Geschlecht und Rollen zu reflektieren, und welche Aufgabe die Lehrpersonen haben bei der Behandlung des Themas im Unterricht.
Akzente: «Schülerinnen und Schüler können Geschlecht und Rollen reflektieren» – diese Kompetenz ist im Lehrplan 21 festgehalten. Was ist darunter zu verstehen?
Schär: Die Kompetenz gehört im Lehrplan 21 zum Thema «Geschlechter und Gleichstellung». Das ist eines der sieben fächerübergreifenden Themen der Leitidee «Nachhaltige Entwicklung». Die Schülerinnen und Schüler sollen sich ab dem 1. Zyklus mit der Frage auseinandersetzen, welche Bilder und Vorstellungen von Geschlecht und Rollen sie in Bezug auf Beruf, Bildung, Sexualität, Beziehung oder Familie haben. Zu Beginn geht es allgemein um Geschlechterrollen und das eigene Rollenverhalten. Im 2. Zyklus gibt es dann eine Kompetenzstufe zur sachlichen und wertschätzenden Sprache, zur Reflexion von Männer- und Frauenrollen sowie zu Vorurteilen und Klischees im Alltag und in den Medien. Im 3. Zyklus werden ausserdem der Aspekt der Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder sexueller Orientierung betrachtet sowie Faktoren und Situationen, die Diskriminierung und Übergriffe begünstigen. Kompetenz bedeutet auch, dass man das Wissen anwenden kann. Schülerinnen und Schülern soll deshalb auch vermittelt werden, wie sie sich gegen Diskriminierung und Übergriffe wehren können.
Warum ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler stereotype Rollenbilder kritisch hinterfragen können?
Das Weltbild von Kindern wird wesentlich durch das Umfeld geprägt, in dem sie aufwachsen. Je enger die Geschlechterschemata sind, desto kleiner ist ihr Verhaltensspielraum. Damit Kinder sich frei entfalten können, sollten sie ihre Sichtweise erweitern können. Dazu gehört auch zu begreifen, dass es unterschiedliche Lebensmodelle gibt. Insbesondere im Kindergartenalter glauben die Kinder, sich entsprechend ihres erlernten Geschlechterschemas verhalten zu müssen. Deshalb ist es sehr begrüssenswert, dass der Lehrplan 21 bereits für den 1. Zyklus Kompetenzstufen zu «Geschlecht und Rollen reflektieren» definiert.
Welche Rolle haben Lehrerinnen und Lehrer hier?
Die Lehrperson ist ein sehr wichtiges Vorbild für die Kinder. Damit sie den Schülerinnen und Schülern diese Kompetenzen vermitteln kann, ist nicht nur Hintergrundwissen zu Geschlechterrollen oder Geschlechterkonstruktionen notwendig. Sie sollte sich auch mit den eigenen Normvorstellungen und den eigenen stereotypen Bildern von Männern und Frauen auseinandersetzen. Um Geschlechterstereotype zu vermeiden, muss man sie erst einmal erkennen. Damit sie im Unterricht nicht unbeabsichtigt weitergegeben werden, wäre es wichtig, das bestehende Unterrichtsmaterial gut auszuwählen und vor dem Einsatz kritisch zu analysieren.
Zunächst sollten also die eigene Haltung zum Thema und die eigenen Rollenerwartungen reflektiert werden?
Ja, die eigenen Erwartungshaltungen sind von grosser Bedeutung. Oft erwarten wir unbewusst ein unterschiedliches Verhalten je nach Geschlecht. Wir haben Vorstellungen, was für ein Mädchen oder für einen Jungen angemessen ist. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Mädchen und Jungen oft für unterschiedliche Dinge Lob, Anerkennung oder wertschätzende Rückmeldungen erhalten. Verhalten am Geschlecht festzumachen, verstärkt Stereotype. Im Vordergrund sollten die Vielfalt der Kinder stehen, ihre individuellen Fähigkeiten und Interessen, und nicht das Geschlecht eines Kindes.
Wie können wir unsere eigene Haltung zum Thema hinterfragen?
Jeder und jede hat bestimmte Rollenvorstellungen, das sollten wir uns selbst gegenüber erst einmal eingestehen. Das kann sich schon darin zeigen, dass man einen Jungen mit langen Haaren zuerst für ein Mädchen hält. Unsere Rollenvorstellungen drücken sich auch in der Sprache aus. Es ist immer noch verbreitet, standardmässig die maskuline Form für alle Personen zu verwenden. Wir können unsere Haltung hinterfragen, indem wir uns die eigenen stereotypen Bilder bewusst machen, uns Wissen zum Thema aneignen und uns mit anderen darüber austauschen. Studien zu Unterschieden zwischen Geschlechtern können helfen, ein Problembewusstsein zu schaffen. Sie zeigen, dass die Ähnlichkeiten zwischen den Geschlechtern bei Weitem überwiegen – wir konzentrieren uns aber meistens auf die Unterschiede.
Ist die Kompetenz «Geschlecht und Rollen reflektieren» breit bekannt? Wie wird das Thema im Unterricht behandelt?
Um herauszufinden, ob die im Lehrplan 21 geforderte Kompetenz bekannt ist, haben meine Kollegin Christa Kappler und ich im Rahmen eines Forschungsprojekts stichprobenartig einige Lehrpersonen auf Kindergarten- und Primarstufe befragt. Sie kannten die neue Kompetenz nicht explizit, dennoch lassen sie das Thema «Geschlechter und Gleichstellung» mit stufengerechten Inhalten in ihren Unterricht einfliessen. Einige machen das spontan, wenn das Thema in Alltagssituationen oder durch Aussagen der Schülerinnen und Schüler aufkommt. Andere planen dazu konkrete Unterrichtsaktivitäten. Die von uns befragten Lehrpersonen fühlten sich genügend kompetent, das Thema zu vermitteln. Sie sahen jedoch einen grossen Bedarf an Unterrichtsmaterialien und Ideen für spezifische Lektionen und Lehrmittel, weshalb wir eine Liste mit Tipps zusammengestellt haben.