Rebekka Tanner ist zu ihren Wurzeln zurückgekehrt: In der Winterthurer Berufsschule, wo sie einst zur Fachperson Betreuung ausgebildet wurde, unterrichtet sie heute Berufskunde. Dabei trifft sie auf Altbekanntes und neue Herausforderungen.
Mittagszeit im Schulhaus Mühletal. Die Mensa der Winterthurer Berufsschule ist voll besetzt, verschiedene Essensgerüche verbreiten sich bis ins Treppenhaus. Rebekka Tanner ist auf dem Weg zu den Klassenzimmern im dritten Stock. «Früher ging ich selten in die Mensa», erklärt die 28-Jährige. «Heute esse ich oft hier, damit ich etwas mehr Zeit zum Vorbereiten der Lektionen habe.» Rebekka Tanner drückte hier während ihrer Lehre zur Fachperson Betreuung einst selbst die Schulbank. Danach hat sie während 10 Jahren Erfahrungen in der Kinderbetreuung gesammelt: Als Springerin und später Gruppenleiterin war sie in verschiedenen Kitas und einem Schulhort tätig. «Mit den Jahren entwickelte sich der Wunsch, meine Erfahrungen weitergeben zu können», erzählt sie. Deshalb liess sie sich an der PH Zürich während eines Jahres zur Berufsschullehrerin ausbilden. Im Herbst 2018, kurz nach Beginn ihres Studiums, ist sie vorerst als stellvertretende, später als festangestellte Berufsschullehrerin in das Schulhaus Mühletal zurückgekehrt. Auf den ersten Blick hat sich hier seit ihrer Zeit als Schülerin nicht viel verändert: derselbe Noppenboden, die gleichen Holzverkleidungen und dunkelblauen Türen.
Flipcharts und Filme
Rebekka Tanner unterrichtet angehende Fachpersonen Betreuung, die in der Kinderbetreuung tätig sein wollen, in den Fächern «Begleiten und Betreuen», «Musik und Bewegung» sowie «Mensch und Entwicklung». Letzteres steht heute Nachmittag auf dem Programm. Als Tanner das Schulzimmer betritt, folgen ihr bereits die ersten Schülerinnen und Schüler. Die 1. Lehrjahrklasse besteht aus vier jungen Männern und 16 jungen Frauen. Auf einem Flipchart hat Rebekka Tanner das Programm des heutigen Nachmittags zusammengefasst: Es geht um das Thema «Selbst- und Fremdwahrnehmung», wozu verschiedene Paar- und Einzelaufgaben gelöst werden müssen. «Wie geht es Ihnen, hatten Sie einen guten Morgen?», begrüsst sie ihre Klasse. «Mega» kommt die Antwort aus der zweiten Reihe. Um in das Thema einzusteigen, zeigt Tanner einen Kurzfilm über einen Künstler, der eine Person – ohne sie zu sehen – nach ihren eigenen Beschreibungen porträtiert. Danach erstellt er ein zweites Porträt nach den Beschreibungen von fremden Menschen, die die porträtierte Person kurz getroffen haben. Obwohl auf beiden Porträts dieselbe Person zu sehen ist, fallen sie sehr unterschiedlich aus. Selbst- und Fremdwahrnehmung können stark voneinander abweichen. «Für angehende Fachpersonen Betreuung ist es wichtig, dass sie sich bewusst sind, dass ihre Wahrnehmung einer Person oftmals nicht der Wirklichkeit entspricht», erklärt Tanner. «Ein Kita-Kind beispielsweise, das gerne allein spielt, ist nicht automatisch ein Einzelgänger.»
Private Beispiele im Unterricht
Als Rebekka Tanner zum ersten Mal als Lehrerin in dieses Schulhaus kam, war die Nervosität gross. «Ich habe damals den Schülerinnen und Schülern gleich zu Beginn meinen Werdegang erzählt», erinnert sie sich. «Dazu sind viele Fragen aus der Klasse gekommen, was das Eis schnell gebrochen hat.» Auch heute bringt sie immer wieder passende Anekdoten aus ihrem Privatleben. «Im Studium hatte ich eine Mitstudentin, die mir zu Beginn total unsympathisch war», erklärt sie zum Beispiel. «Entgegen allen Erwartungen haben wir uns aber irgendwann sehr gut verstanden.» Um den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung am eigenen Leib zu erfahren, müssen sich die Schülerinnen und Schüler bei der nächsten Aufgabe in Zweiergruppen gegenseitig beschreiben. Anschliessend werden die Erfahrungen mit der Klasse geteilt.
Von der Schülerin zur Lehrerin
Nach der zweiten Stunde erhält die Klasse eine Einführung in die Mediothek. Rebekka Tanner begleitet ihre Klasse, übergibt die Führung aber der Bibliothekarin. «Hier fi nden Sie über 11’000 Medien», erklärt diese und erntet dafür grosses Staunen. «Obwohl die Bibliothek noch so aussieht wie früher, ist die Auswahl grösser und vielfältiger geworden», bemerkt Tanner, während ihre Schülerinnen und Schüler den Ausführungen der Bibliothekarin folgen.
«Das nicht mehr ganz frische Erscheinungsbild der Schule täuscht», weiss die Lehrerin. Seit ihrer Lehre habe sich doch einiges verändert. So habe zum Beispiel auch in diesem Schulhaus die Digitalisierung Einzug gehalten. Viele Aufgaben werden mittlerweile auf Lernplattformen und Learning-Apps erledigt. Zudem werde der Unterricht heute stärker mit der Praxis verknüpft, zum Beispiel mit Rollenspielen, in welchen die Schülerinnen und Schüler die Theorie direkt in eine Handlung ummünzen müssen. «Es gibt hier Lehrpersonen, die mich damals schon unterrichtet haben», schmunzelt Tanner. «Sie haben schon einige Änderungen im Lehrplan miterlebt und sind immer noch top motiviert.»
Sie fühle sich sehr gut aufgehoben im Lehrpersonenteam. Bereits vor ihrem ersten Tag als Lehrerin sei ihr eine Mentorin zugeteilt worden, die sie mit Unterlagen und Infos versorgt habe. Das Schwierigste beim Berufseinstieg sei wohl der grosse Aufwand für die Vorbereitungen gewesen. «Und ich hatte zu Beginn etwas Mühe, mich in meiner neuen Rolle als Lehrerin zurechtzufinden», fügt sie hinzu. Früher sei sie selbst Teil einer Klasse gewesen, dann Teil eines Teams. Und jetzt stehe sie plötzlich allein vor einer Klasse. «Ich musste mir unter anderem darüber klar werden, wie ich auftreten will und was ich von meinen Schülerinnen und Schülern erwarte.»
Prüfung bleibt Prüfung
Die Rolle der Lehrerin übt sie nicht nur an der Berufsschule aus: Rebekka Tanner arbeitet neben dieser 50-Prozent-Anstellung auch noch als Umweltlehrperson für die Stiftung Pusch, wo sie Kindergarten- und Unterstufenklassen in Themen wie «Abfall und Konsum» unterrichtet. Und in einem kleinen Pensum gibt sie Führungen im Wildnispark Zürich. «So habe ich nicht nur mit Kindergärtnerinnen und Berufsschülern, sondern zum Teil sogar mit Senioren zu tun», so Tanner.
Nach dem Rundgang durch die Mediothek und einer grossen Pause finden sich die Schülerinnen und Schüler von Rebekka Tanner wieder im Klassenzimmer ein. Da in der folgenden Woche die erste Prüfung ansteht, thematisiert Tanner die Regeln und Ziele einer Prüfung und lässt danach den Stoff , der geprüft wird, nochmals aufarbeiten. «Da hat sich nichts verändert: Eine Prüfung macht die Schülerinnen und Schüler auch heute noch nervös», meint Tanner augenzwinkernd. «Auch in solchen Momenten bin ich froh, heute in der Rolle der Lehrerin zu sein.»