«Gesundes Sprechen ist leicht lernbar»

Lehrpersonen gehören zur Berufsgruppe mit den grössten Belastungen für die Stimme. Dozentin und Stimmexpertin Anja Muth spricht im Interview über die Hintergründe und Konsequenzen von Stimmproblemen und wie man sie in den Griff kriegt.

Anja Muth, Dozentin für Sologesang, Stimmpflege, Sprechtechnik und Stimmhygiene.

Akzente: Sie sind Dozentin für Sologesang und führen Weiterbildungskurse zum Thema «Stimmpflege für Lehrpersonen» durch. Müssen Lehrerinnen und Lehrer ihre Stimmen pflegen?
Muth: Wissenschaftliche Studien legen das unbedingt nahe. Mit den Gesangs- und Schauspielberufen zählt der Lehrberuf in die Gruppe mit den höchsten stimmlichen Belastungen. Die Stimme ist für Lehrerinnen und Lehrer ein unentbehrliches Arbeitsinstrument. Entsprechend wichtig ist es, ihr Sorge zu tragen.

Sind Probleme mit der Stimme denn verbreitet unter Lehrerinnen und Lehrern?
Eine gross angelegte Studie in Deutschland zeigte vor einigen Jahren auf, dass über die Hälfte der Lehrpersonen ab 45 Jahren von Stimmproblemen betroff en ist und etwa 15 Prozent deshalb therapeutische Unterstützung aufsuchen. Diese Befunde lassen sich auch auf die Schweiz übertragen.

Das sind eindrückliche Zahlen. Sind Stimmprobleme aufgrund der jahrelangen Berufstätigkeit so verbreitet in diesem Alter?
Nicht direkt. Bei Fehl- und Überbelastungen des Stimmapparates verschleissen Lehrpersonen ihre Stimme eigentlich bereits ab dem ersten Arbeitstag. Durch die hormonellen Veränderungen, die bei Männern und Frauen ab 40 einsetzen, werden die bestehenden Probleme allerdings gravierender.

Wie drücken sich Stimmprobleme aus?
Das hörbare Hauptsymptom von Stimmproblemen ist Heiserkeit. Hinzu kommen aber auch körperliche Symptome wie Halsschmerzen, Kiefer- oder Nackenverspannungen und mit zunehmender Dauer und Ausmass des Problems schliesslich auch psychische.

Inwiefern psychische?
Zum einen fällt das Sprechen zunehmend schwerer und bereits der Gedanke daran, vor einer Klasse referieren zu müssen, kann Stress auslösen. Zum anderen dringen von Heiserkeit geschwächte Stimmen nachgewiesenermassen weit weniger gut in die Ohren und Köpfe der Zuhörenden durch. Für Lehrpersonen ist das fatal: Sie werden nicht nur schlechter gehört und verstanden, sondern erleben auch ein Gefühl von Unwirksamkeit. Die natürliche Reaktion darauf ist, mehr und lauter zu sprechen. Beides tut der Stimme nichts Gutes.

Dann wirken sich Stimmprobleme also nicht nur für die Lehrperson negativ aus, sondern auch für die Schülerinnen und Schüler.
Die bisherige Forschung ist sich darin einig, dass sich Stimmprobleme von Lehrpersonen u.a. negativ auf das Hörverstehen und die Erinnerungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern auswirken. Weil sie dazu neigen, ihre Lehrerinnen oder Lehrer zu imitieren, übernehmen viele Kinder und Jugendliche auch deren Stimmprobleme. Es geht hier also auch um Verantwortung.

Was geschieht, wenn man bestehende Stimmprobleme unbehandelt lässt?
Wenn man an einem Rockkonzert etwas laut schreit und danach ein paar Tage heiser ist, geht das mit Stimmruhe in einem jüngeren, gesunden Körper meist wieder weg. Bei dauerhafter Fehlbelastung der Stimme hingegen verschwinden die Probleme nicht und verschlechtern sich zunehmend. Mit der Zeit steigen schliesslich die Risiken für pathologische Fehlbildungen im Stimmapparat wie sogenannte «Knötchen» in den Stimmbändern. Deshalb ist es wichtig, sofort zu handeln, wenn man Schwierigkeiten und Unwohlsein beim Sprechen oder im Hals bemerkt. Viele Lehrpersonen nehmen ihre Stimmprobleme lange Zeit als «Berufskrankheit» hin und handeln erst, wenn die Stimme versagt.

Kämpfen Leute, die in Gesangs- und Schauspielberufen arbeiten, denn mit ähnlichen Problemen wie Lehrpersonen?
Pop- oder Rocksängerinnen und -sänger, die meist keine professionelle Stimmbildung genossen haben, entwickeln ähnliche Probleme. Wer dagegen im Rahmen der Ausbildung in Stimm- und Sprechtechniken geschult wurde – wie die meisten, die in Gesangs- und Schauspielberufen arbeiten –, kann die Stimme dauerhaft kräftig und gesund halten. Diesbezüglich gibt es laut Studien noch einiges Potenzial an Pädagogischen Hochschulen im deutschsprachigen Raum.

Ist es schwierig, Stimmprobleme in den Griff zu kriegen?
Das ist die gute Nachricht: Eigentlich gar nicht. Gesundes Sprechen ist leicht lernbar und einfach umsetzbar. Hinzu kommt, dass es sich für die Betroffenen rasch sehr gut anfühlt, wenn sie ihre Haltung, Atem und Artikulation anpassen und das Sprechen leichter fällt. Sie fühlen sich körperlich besser und gewinnen ihre Auftrittskompetenz und Wirksamkeit zurück.

Was können Lehrpersonen Gutes für die Stimme tun?
Als Sofortmassnahme schon ab der nächsten Lektion auf Flüstern oder Räuspern zu verzichten, bringt schon etwas, denn beides belastet die Stimmorgane enorm. Wer das Problem aber grundsätzlich angehen will, sollte sich die Kompetenzen für ein gesundes Sprechen aneignen. Hierfür gibt es sehr gute Literatur und Weiterbildungsangebote. Letztlich ist es aber wichtig, seine Stimme als zentrales, fragiles Arbeitsinstrument zu verstehen und gleich sorgsam mit ihr umzugehen wie eine Spitzensportlerin mit ihrem Körper. Denn was die Stimme anbelangt, betreiben auch Lehrpersonen Spitzensport.

Nächste Weiterbildung «Pädagogenstimme: Stimmpflege»
Vier Samstage ab 7. März 2020 (jeweils 10.15–14.15 Uhr)