Kleinere Kinder lernen am meisten beim Spielen. Das heisst aber keineswegs, dass sich die Lehrperson zurücknehmen kann. Im Gegenteil: Offene Aufgaben und freies Spiel zu begleiten, ist besonders anspruchsvoll. Das Team der Primarschule Mettlen in Opfikon schenkt dem Thema grosse Beachtung.

Die Styroporkugel will einfach nicht richtig an den Holzstäben haften. Der orange Stofffetzen dagegen ist nicht mehr wegzukriegen. Schliesslich hat ihn Dejan* mit Heissleim angeklebt. Nun rupft der Kindergartenjunge etwas ungeduldig am Stoff. So richtig nach Marienkäfer will das Bastelwerk noch nicht aussehen. «Dejan, brauchst du Hilfe?», fragt Kindergärtnerin Pia Zingg und setzt sich zu ihm. «Möchtest du nicht zuerst einmal die Flügel zurechtschneiden?», schlägt sie vor und hilft dem Buben, den Stoff nochmals vom Holz zu lösen. Sie gibt ihm einen Bleistift, damit er die Flügel aufzeichnen kann und lässt ihn eine Schere holen, um sie auszuschneiden.
Ein Donnerstagnachmittag im Kindergarten Dammstrasse in Opfikon. Seit den Sommerferien hat sich die Klasse mit dem Marienkäfer beschäftigt. Die Kinder haben Geschichten gehört über den Läuse fressenden Nützling, haben ihn ausgemalt, selber gezeichnet, ausgeschnitten und bereits einmal mit einem Stein und rotem Moosgummi konstruiert. Das Thema ist im Zimmer überall präsent: Fotos, Zeichnungen und Bastelarbeiten zieren den Raum und in einem Marmeladenglas krabbeln echte Marienkäfer-Larven herum, deren Entwicklung die Kinder täglich beobachten.
Heute Nachmittag ist nur die Halbklasse der Grossen da. Nach einem Begrüssungslied erklärt die Kindergärtnerin die Aufgabe: «Heute dürft ihr einen Marienkäfer basteln. Ihr könnt alles verwenden, was ihr im Bastelzimmer findet.» Eine Lektion, die auf den ersten Anschein wenig Vorbereitung braucht. Doch gerade solche offenen Aufgaben seien anspruchsvoll, sagt Pia Zingg. «Ich muss bei allen Kindern nahe dran sein.» Lasse man sie einfach machen, würden viele das Ziel aus den Augen verlieren und hätten am Schluss wenig gelernt.
Elisa, Ilka und Mia zum Beispiel haben sich im Bastelzimmer alle zuerst einmal eine gelbe Plastikbüchse geschnappt, die früher einmal Honig enthielt. Mia klebt Buchstaben auf den Deckel, Ilka überzieht die Öffnung mit Klebestreifen und legt einen glitzernden Stein in die Dose. Und alle hantieren begeistert mit der Heissleim-Pistole. Ähnlichkeiten mit einem Insekt sind noch nicht richtig erkennbar. Pia Zingg lässt die drei eine Weile selbstständig werken. Dann beginnt sie sanft einzugreifen: «Wo ist der Kopf und wo sind die Beine?», fragt sie Ilka, die erst zwei Wochen in der Schweiz lebt und noch kaum Deutsch spricht. Sie hat die Aufgabe offensichtlich nicht verstanden. Zingg zeigt ihr nochmals die Fotos eines Marienkäfers und lässt sie die Beine zählen. Nachdem das Mädchen sechs Pfeifenputzer an die Dose geklebt hat, nimmt das Tier Form an.
Anregende Umgebung gestalten
In der letzten Sommerferienwoche hat das Kindergartenund Unterstufenteam der Primarschule Mettlen gemeinsam eine interne Weiterbildung besucht. Einen Tag lang befassten sich die Lehrpersonen damit, wie offene Aufgaben und Spielsequenzen so in den Unterricht eingebaut werden können, dass die Kinder möglichst viel profitieren. «Kinder bis im Alter von etwa acht Jahren lernen am meisten beim Spielen», sagt Catherine Lieger, Dozentin an der PH Zürich. Deshalb räume der Lehrplan 21 dem Spiel einen grossen Stellenwert ein im Zyklus 1 – also vom Kindergarten bis zur zweiten Klasse. Die vorherrschende Meinung, dass Spielen vor allem Zeitverschwendung sei, entspreche nicht den Erkenntnissen aus der Forschung, erklärt Lieger. Demgemäss haben leistungsstarke Achtklässler in ihrer Kindheit deutlich häufiger gespielt als Jugendliche mit geringem Schulerfolg. Regelmässige Gelegenheiten für offenes Spielen müssten sich deshalb bis mindestens in die zweite Klasse hinein weiterziehen, erläutert Lieger.
Doch die Kinder spielen zu lassen, heisse keineswegs, dass sich die Lehrperson einfach ausklinken kann, betont die Forscherin. «Auch das freie Spiel muss gut geplant sein. Es braucht eine anregende Spiel- und Lernumgebung.» Lehrpersonen müssten sich gut überlegen, welche Materialien sie zur Verfügung stellen und welche nicht. Dabei gelte nicht immer der Grundsatz «je mehr, desto besser». Kinder sollen sich auch selber überlegen, wo sie fehlende Gegenstände beschaffen können. Wollen sie sich zum Beispiel als Königin und König verkleiden, können sie mit glänzendem Papier eine Krone basteln, und um ein Schloss zu bauen, draussen Holzstecken und Steine suchen.
Planung läuft im Kopf ab
Während des Spielens brauchen die meisten Kinder immer wieder Impulse. Während angehende Lehrpersonen früher angewiesen wurden, nur zu beobachten und nicht einzugreifen, legen neue Erkenntnisse nahe, dass Kinder oft Unterstützung brauchen, um neue Lösungsansätze zu entwickeln. Wenn etwa das aus Klötzen konstruierte Gebäude immer wieder einstürzt, kann die Lehrperson mit den Kindern überlegen, wie sie den Eingang stabil gestalten können. Sonst besteht die Gefahr, dass sie frustriert sind und aufgeben.
Ein weiterer wichtiger Schritt für den Lernerfolg ist die Reflexion. Die Lehrperson soll das Kind zum Nachdenken darüber anregen, was ihm gelungen ist, was nicht und was es beim nächsten Mal anders machen könnte. Dies gelinge meist besser individuell als im Plenum, sagt Lieger. «Wenn jedes Kind etwas sagt, kann es langweilig werden.» Zudem müssten die Lernerfolge und der Entwicklungsstand stets dokumentiert werden. Auch hier brauche es neue Formen, regt die Dozentin an. Statt dass nur die Lehrperson für sich Notizen macht, könnten die fertigen Arbeiten zusammen mit einem Arbeitsplan in einer Schatzkiste aufbewahrt werden, zu der auch das Kind Zugang hat.

«Erfahrene Lehrpersonen planen ihre Lektionen meist nicht mehr so minutiös wie frisch ausgebildete», weiss Catherine Lieger. «Sie planen eher semester- und wochenweise und überlegen sich, welche Kompetenzen sie bei den einzelnen Kindern fördern wollen.» Sowohl offene Aufgaben als auch freies Spielen brauchen gemäss Lieger viel gedankliche Vorbereitung. Die Lehrperson muss sich stets bei jedem Kind bewusst sein, wo es steht, und ihm individuelle Anregungen geben, damit es in der Entwicklung weiterkommt.
Viel spielen bis in die zweite Klasse
An der Weiterbildung wurde das Team ermutigt, die Kinder auch in der ersten und zweiten Klasse immer wieder mal eine ganze Stunde spielen zu lassen. Dabei könnten die Kinder sinnliche Erfahrungen machen, sagt Schulleiterin Bea Abegg. «Viele haben vor dem Kindergarteneintritt noch kaum mit Sand oder Wasser gespielt.» Auch Inhalte von anderen Fächern könnten im Spiel vertieft werden, erklärt sie. Beim «Verkäuferlis» zum Beispiel wenden die Schülerinnen und Schüler die Mathematik oft von sich aus an, wenn sie an der Kasse bezahlen. Gleichzeitig erkennen Lehrpersonen in den Handlungen, wo das Kind steht und was für Vorstellungen es hat. Seit der Weiterbildung trifft die Schulleiterin in vielen Klassenzimmern Veränderungen an: Bäbi-Ecken werden zu Themen-Ecken umgewandelt, in denen etwa Baumaterial wie Klötze und Steine zur Verfügung stehen. Kurze Anleitungssequenzen seien aber immer noch sinnvoll und nötig, betont Abegg. So lernen die Kinder zum Beispiel, mit der Schere umzugehen oder zwei Gegenstände mit Leim, Klebeband oder Schnur miteinander zu verbinden. Solche Fertigkeiten bringen sie im freien Spiel weiter.
Mit dem Kind reflektieren
Am Nachmittag der Weiterbildung konnten sich die Lehrpersonen in Gruppen auf einen bestimmten Punkt der Spielvorbereitung konzentrieren. Pia Zingg und ihre Kolleginnen vom selben Kindergarten befassten sich vertieft mit dem Anleiten der Reflexion über Lern- und Spielprozesse. Die Schwierigkeit liege in diesem multikulturell geprägten Umfeld darin, dass die sprachlichen Voraussetzungen oft gar nicht gegeben seien, sagt Zingg. Man müsse dann auf einem sehr einfachen Niveau kommunizieren, also etwa fragen: «Was machst du gern?» Gut möglich, dass das Kind dann nur mit dem Finger auf die Bäbi-Ecke zeige. Eine Möglichkeit sei, dass die DaZ-Lehrerin die Aufgabe übernimmt, mit dem Kind zu reflektieren. Beim Marienkäfer-Basteln setzt Zingg das Gelernte mit einzelnen Kindern auf einfachem Niveau um. «Was hast du schwierig gefunden», fragt sie etwa Milena. «Die Beine ankleben», antwortet das Mädchen. Ob ihr jemand geholfen habe, will Zingg weiter wissen. «Nein, alleine», sagt Milena. Ilka dagegen wird ihren Käfer am anderen Tag zur DaZ-Lehrerin mitnehmen und mit ihr darüber sprechen. Auch Nadia und Viktor sind inzwischen fertig mit ihren Käfern. Nun wollen sie Hund und Katze spielen. «Dann müsst ihr aber noch Ohren für die Katze und einen Schwanz basteln», regt die Kindergärtnerin an. Sie wolle nicht, dass die beiden einfach nur den Rest des Nachmittags auf dem Boden herumkriechen und «wauwau, miau» machen, erklärt sie. «So kommen sie nicht weiter. Ich will sie herausfordern.»
Nachdenken, aber nicht bewerten
Um halb vier versammeln sich die Kinder nochmals im Kreis. In der Mitte liegt unterdessen ein ganzer Schwarm von Marienkäfern in allen Farben und Formen. Verschiedenste Materialien haben eine neue Verwendung gefunden: Styropor-Bälle, Bierdeckel, WC-Rollen, Fotofilm-Döschen, Honigbüchsen und Brausetabletten-Röhrchen. Auch in Dejans Werk ist nun ein Insekt erkennbar: Der Kopf ist mit Leim an den Holzstäben befestigt und die Flügel sind in Form geschnitten. «Morgen müsst ihr euren Käfer suchen gehen», kündigt die Kindergärtnerin an. Er werde über Nacht wegfliegen. Nach einem Lied machen sich die Kinder erschöpft, aber fröhlich auf den Heimweg.
Im Kindergarten stehen derweil noch Gefässe mit Farben und Pinsel herum und die Heissleim-Pistolen sind noch am Strom angeschlossen. Die Zeit sei etwas knapp geworden am Schluss, räumt Zingg ein, die vor zwei Jahren die Quereinstieg-Ausbildung abgeschlossen hat. Das nächste Mal möchte sie früher abbrechen, damit die Kinder noch beim Aufräumen helfen können. Im Grossen und Ganzen ist sie aber mit dem Nachmittag zufrieden. Das individuelle Reflektieren sei bei einigen gut gelungen: «Die Kinder stellen selber fest, dass sie Fortschritte machen.»

* Namen der Kinder geändert