Zu wenig Freizeit und schwierige Schülerinnen und Schüler: Davide Carls wollte seine Ausbildung zum Sekundarlehrer einst vorzeitig abbrechen. Heute ist er froh, trotz Hindernissen drangeblieben zu sein, und hilft Berufskollegen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben.
Nach der Mittagsruhe kommt wieder Leben in das Sekundar-Schulhaus Seehalde in Niederhasli: Jugendliche finden in Gruppen zusammen, sitzen in den alten Kabinen einer Luftseilbahn, die in der Eingangshalle des Trakts A stehen, oder beenden den Kochunterricht mit dem Abwaschen gebrauchter Teller und Pfannen. Kurz vor 13.30 Uhr verschwinden die Schülerinnen und Schüler in den Zimmern der rot-weissen Schulgebäude. 13 Mädchen steuern den Trakt C an und begeben sich ins «Office», einen grossen Raum im Parterre mit rund 80 Arbeitsplätzen und einer Aussicht auf den Haslisee. Auf den bodenlangen Fenstern kleben Super Mario, dessen Gefährtin Prinzessin Peach und Bart Simpson, und auf einem Regal erzählen Pokale von vergangenen Siegen an Sportanlässen. Jeder Arbeitsplatz ist mit farbigen Paneelen vom Nachbarstisch getrennt und individuell mit Bildern von Freunden, Flaggen oder Comicfiguren dekoriert. Als der Lehrer Davide Carls den Raum betritt, sind die Schülerinnen der 2. Sek A/B bereits in verschiedene Aufgaben vertieft, allein oder leise flüsternd in kleinen Gruppen. Davide Carls, der Deutsch, Englisch, Hauswirtschaft und Sport unterrichtet, beginnt auf seinem Laptop zu arbeiten und wird hin und wieder von einzelnen Schülerinnen um Rat gefragt.
Vom Besuch zur Festanstellung
«Diese Schule verfolgt ein etwas anderes Konzept, als ich es von früher gewohnt war», erzählt Davide Carls im Flüsterton, um die Mädchen nicht zu stören. «Hier setzt man auf selbstständiges Lernen und auf digitales Arbeiten», erklärt er. Jede Schülerin und jeder Schüler besitzt ein eigenes iPad, ausgedruckt werden jeweils nur die Lernziele zu Beginn des Semesters. Alle anderen Unterlagen werden online zur Verfügung gestellt. Etwa zwei Drittel des Unterrichts finden wie gewohnt in Klassen statt. Um die Selbstständigkeit der Jugendlichen zu fördern, arbeiten sie während der restlichen Zeit im «Office» eigenständig an individuellen Aufgaben. Je nach Anzahl der Schülerinnen und Schüler sind bis zu drei Lehrpersonen anwesend; heute reicht es, wenn Davide Carls bei Fragen zur Verfügung steht und die Arbeiten kontrolliert. «Dieses Konzept hat mich fasziniert und ist der Grund, weshalb ich hier arbeite», schwärmt der 30-Jährige. Er hat die Schule bei einem Besuch kennengelernt und seine Unterlagen danach dem Schulleiter geschickt. «Vor zweieinhalb Jahren durfte ich dann die Stellvertretung einer Lehrerin übernehmen, die im Mutterschaftsurlaub war. Kurze Zeit später erhielt ich eine Festanstellung», erinnert sich Davide Carls, bevor er wieder von Mädchen umringt und mit Fragen konfrontiert wird, die er ruhig beantwortet.
Stolpersteine beim Berufseinstieg
Doch Carls war nicht immer so entspannt. «Nach dem Bachelor dachte ich ans Aufgeben», verrät er. Er fühlte sich überfordert mit der grossen Menge an Unterrichtsvorbereitungen und den Störungen im Unterricht. «Ich war nicht darauf vorbereitet, dass im Unterricht so vieles schieflaufen kann», so Carls. Er habe nicht gewusst, wie er mit schwierigen Schülerinnen und Schülern umgehen und seine Zeit einteilen soll. «Das fortschrittliche Konzept dieser Schule hat mir geholfen», ist er sicher. Durch das selbstständige Lernen habe sich die Vorbereitung der Lektionen vereinfacht, auch wenn die Betreuung der Schülerinnen und Schüler viel intensiver und anspruchsvoller sei, da sie nicht alle dieselben, sondern individuelle Arbeiten abgeben. Intensiv ist auch die Zusammenarbeit mit den anderen Lehrpersonen. «Indem wir die Aufsicht im ‹Office› häufig gemeinsam bestreiten, müssen wir uns je nach Zusammensetzung der Lehrpersonen immer wieder neu über die geltenden Regeln einigen», erzählt Carls.
Tipps für Berufskollegen
Das Lehrpersonenteam habe ihm aber auch dabei geholfen, die schwierigen Fälle unter den Schülerinnen und Schülern in den Griff zu kriegen. «Zu Beginn nahm ich jedes Fehlverhalten persönlich, heute suche ich nach dem wahren Grund für das Verhalten.» Zudem pflege er eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern. «Ein Coaching, das ich an der PH Zürich in Anspruch genommen habe, hat mich gut auf schwierige Elterngespräche vorbereitet», so Carls. Indem er objektiv über schwierige Situationen informiere, könne er eigentlich immer auf die Mithilfe der Eltern zählen. Nun steht er anderen Berufseinsteigern mit Rat und Tat zur Seite – und zwar digital. Unter dem YouTube-Kanal «Lehrertricks» postet er regelmässig Videotutorials, in welchen er die Schwierigkeiten seines Berufsalltags aufnimmt.
Grenzen der digitalen Schule
Nach 45 Minuten selbstständigem Lernen verlassen die Schülerinnen das «Office» Richtung Klassenzimmer im oberen Stock. Nach und nach treffen die Jungs ein, die zuvor Sport hatten. Während der kommenden zwei Lektionen gibt Carls Unterricht im Fach Deutsch. Auf dem Programm steht «Poetry Slam», ein literarischer Vortragswettbewerb. Acht der 27 Schülerinnen und Schüler stehen nacheinander vor die Klasse und lesen ihre selbstgeschriebenen Texte vor. Sie überraschen mit tiefschürfenden Themen wie «Sinn des Lebens», «Selbstzweifel» und «Terrorismus». Carls vergibt jeweils Punkte und begründet seine Bewertung. «Ich gebe dir die volle Punktzahl für den Inhalt», so Carls zu einem Jungen, der mit roten Wangen einen Text zum Thema «Liebe» vorgetragen hat. «Allerdings musst du beim Test nächsten Montag viel deutlicher sprechen», schliesst Carls. Die Offenheit der Schülerinnen und Schüler, über persönliche Themen zu sprechen, zeigt das Vertrauen, das sie Carls entgegenbringen. «Eine gute Beziehung zu den Schülern und Schülerinnen ist die Grundlage, um überhaupt zusammenarbeiten zu können», erklärt er, als die Lektionen vorbei sind. «Deshalb wird eine Lehrperson niemals durch einen Roboter ersetzt werden können. Wie würde wohl ein Roboter reagieren, wenn ihm ein Schüler erzählt, dass sein Hund gestorben oder sein Vater schwer erkrankt ist», gibt er zu bedenken. Dann macht er sich auf den Weg zurück ins «Office», wo sich nun die Jungs zum selbstständigen Lernen einfinden, während die Mädchen zum Sport gehen.