Ein analoges Ritual für die digitale Welt

Dario Venutti – Seitenblick
Dario Venutti – Seitenblick

Ein kritischer Moment im Unterrichtsalltag ist jener nach der Pause. Wie stellt man als Lehrperson die Arbeitsatmosphäre wieder her? Was tut man, um die Aufmerksamkeit der Lernenden neu zu gewinnen? Manchmal ist die Pause vielleicht sogar spannender als der Unterricht, doch verlängern lässt sie sich nicht.

Die Herausforderung stellt sich im digitalen Zeitalter in neuer Schärfe: Nutzten Schülerinnen und Schüler früher die Pausen für gemeinsame Aktivitäten, wodurch es im Schulhaus und auf dem Pausenplatz ziemlich laut werden konnte, greifen sie heute zum Handy und tauchen ins Internet ab – zumindest dort, wo die Geräte erlaubt sind. Die Folge: In den Pausen herrscht Ruhe, und zwar in einem Ausmass, wie es sich Lehrerinnen und Lehrer für den Unterricht wünschen. Kaum beginnt die neue Lektion, wird es jedoch wieder laut: Auch heutige Lernende verspüren das Bedürfnis nach sozialem Austausch mit ihren Schulfreundinnen und -freunden – nur werden sie in der Pause eben vom Handy davon abgehalten und wollen das Versäumte nach der Pause im Klassenzimmer nachholen. Was also tun? Mit Zwangsmassnahmen lässt sich eine Arbeitsatmosphäre nicht herstellen. Wer in Kasernenhofmanier spricht, verliert schnell seine Glaubwürdigkeit. Appelle an die Kooperationsbereitschaft der Lernenden und grosse Worte über Selbstverantwortung sind auf Dauer wirkungslos. Im schlechtesten Fall entblössen sie die Lehrperson als ohnmächtig.

Um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, müssen sich Lehrerinnen und Lehrer bewusst sein, was durch die Pause eigentlich passiert ist. Die Klasse ist in ihre Einzelteile zerfallen. Jede und jeder verschwindet im Netz in ihrer und seiner eigenen Welt, wo sie und er wahrscheinlich mit anderen verbunden sind, aber kaum mit jenen, die während der Pause neben ihnen sitzen oder stehen. Für Lehrerinnen und Lehrer geht es also zunächst einmal darum, wieder zusammenzuführen, was eben auseinandergefallen ist. Erst die Wiederherstellung des Klassenverbands schafft die Basis für eine Arbeitsatmosphäre.

Wiederkehrende Abläufe können dabei helfen. Lehrpersonen, die nach der Pause zum Beispiel ein Klanginstrument – ein Glöcklein oder einen Triangel – erklingen lassen, entlasten die Lernenden auf sinnliche Weise. Sie laden den Klang mit einer symbolischen Bedeutung auf und schaffen so ein Ritual: Der Klang signalisiert, dass die Einzelteile wieder zu einer Gemeinschaft werden und dass die Lernenden das Alte (die Pause) verlassen und in etwas Neues (in den Unterricht) übergehen sollen. Manchmal muss man den Klang mehrmals wiederholen, um den Übergang endgültig zu vollziehen.

Vor einigen Wochen wurde mein Glöcklein beim Transport beschädigt, sodass ich es nicht mehr gebrauchen konnte. Obwohl in der Folge das Übergangsritual deutlich schlechter klappte und das Händeklatschen keine befriedigende Alternative war, verschob ich den Kauf eines neuen Glöckleins in die Sommerferien. Doch so lange wollten meine Schülerinnen und Schüler nicht warten – und schenkten mir eines.

Dario Venutti ist Berufsfachschullehrer und Dozent auf der Sekundarstufe 2 an der PH Zürich.

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