Ein irakischer Spaziergänger im Lande Robert Walsers

«In der Fremde sprechen die Bäume arabisch.» (Limmat Verlag, 2018)
«In der Fremde sprechen die Bäume arabisch.» (Limmat Verlag, 2018)

In Bagdad schreiben junge Männer ihre Namen und Telefonnummern auf ihre Körper und Kleider, damit ihre Leichen später identifiziert werden können. Als Alis Mutter das entdeckt, ist sie schockiert. Sie realisiert, welcher Gefahr sich ihr Sohn in dieser Stadt aussetzt. Aber weder sie noch ihr Bruder Usama, der in die Schweiz geflohen ist, können ihn überzeugen, in den sichereren Süden des Landes zu ziehen. Ali braucht die Grossstadt, die Gespräche über Literatur und Kunst, er will französisch sprechen und arbeiten können.

Im Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch erzählt Usama (der im Roman keinen Nachnamen hat) aus der Ich-Perspektive die Geschichte von seiner Ankunft in der Schweiz und dem Verlust des Lebens in der früheren Heimat. Die Existenz in der Schweiz ist porös, sie ist durchdrungen von Erinnerungen an das Leben im Irak. Die Stimme der Grossmutter ist allgegenwärtig. Immer wieder wirft ihn der Kontakt mit der Familie aus der Bahn. Die Sicherheit in der Schweiz ist zwar äussere Realität, Usamas Befinden ist jedoch höchst fragil.

«Wenn man im Irak geboren wird, hat man zwei Möglichkeiten: fliehen oder sterben.» So erzählt es Usama seinem ersten Schweizer Arbeitgeber. Aber auch nach der Flucht bleibt die Zerrissenheit bestehen, die Entscheidung in der Fremde zu bleiben, «immer zu den anderen zu gehören», wird von Gedanken an die Rückkehr bedrängt, der Rückkehr in die Heimat, «wo an jeder Ecke ein Trauma lauert». Von der Asylunterkunft in der Schweiz aus kann auch Usama seinen Bruder Ali nicht davon überzeugen, Bagdad zu verlassen. Und niemand in der Familie hat die Ressourcen, die kostspielige Flucht für ein weiteres Familienmitglied nach Europa zu finanzieren. Schliesslich erreicht Usama eine Mail von seinem Bruder Naser, der ihm von Alis Verschwinden berichtet. Die Suche nach ihm und der Umgang mit dem drohenden Verlust bilden ein zentrales Handlungsmotiv in Al Shamanis autobiografisch geprägtem Roman.

Krieg und Exil treibt Menschen auseinander, trennt sie nicht nur geographisch. Usama Al Shamani beschreibt die Unteilbarkeit von Erfahrungen, auch die Veränderung der Sprache durch neue Erfahrungen. «Arabisch war für mich eine Sprache der Poesie und der Kalligrafie, sie war aber auch eine Sprache des Krieges, der Gewalt, des Verschwindens und der Lüge geworden.» Seine Frau, die als Kind aus dem Irak in die Schweiz gekommen ist, kennt diese Sprache des Krieges nicht. Und wenn er Schweizern zuhört, erkennt er in ihrer Sprache, dass sie keinen Krieg erlebt haben.

In der Schweiz findet er jedoch in der Natur einen neuen Zufluchtsort. Wenn er bei Spaziergängen im Wald laut spricht, antwortet ihm das Echo. «Bäume lügen nicht», so hatte es seine Grossmutter beschrieben. Der Wald ist der Ort der Poesie, wo er sich ausprobiert, sich zuhört, ein Ort der Leichtigkeit und Reinigung. In diesen Zwiegesprächen in der Natur findet er zu seiner Sprache, seiner künstlerischen Identität. Die Natur ist vorurteilslos, eine gute Zuhörerin.

Die Spaziergänge im Wald, die Wanderungen in den Ostschweizer Bergen ziehen sich durch das Buch und sind Momente der Kontemplation und Einkehr. Klar und konkret bewegen sich die Beschreibungen der Innerlichkeit im Spiegel der Bäume, Flüsse und Berge, hier befindet sich die Figur in einem Raum, in dem Traumabewältigung, Identitätssuche und schöpferische Prozesse untrennbar sind.

Und doch: der Tod ist ein Basston, der in diesem Roman mitschwingt und sich immer wieder in den Vordergrund drängt. Die Sorge um den verschwundenen Bruder, die Nachrichten Nasers, der in den Leichenhäusern vergeblich nach Ali sucht, die Erkenntnis, dass es heute im Irak selbst im Tod keine Gerechtigkeit gibt, wo die letzte Würde den Toten vorenthalten bleibt. «Inzwischen müssen die Bäume beim Töten helfen. Wenn die Leute morgens aufwachen, sehen sie jetzt die Leichen an den Bäumen (…) hängen. (…) Jetzt findet man da keine verliebten Paare mehr, sondern jeden Tag frische Leichen.»

Der Erzähler hilft uns bei der Bewältigung dieser Schreckensbilder. Seine Haltung gegenüber dem Grauen, seine Klarheit der Beschreibung und der inneren Analyse, die auch das Recht auf letzte Geheimnisse ausbedingt, helfen dem Leser, das Grausame auszuhalten. Usama wird zu einem emotionalen Vorbild, einem Orientierungspunkt. Er verneint nicht, er verdrängt selten. Er beschreibt genau, was die Voraussetzungen dieser Stärke sind: «Verzweifelt zu sein ist sehr einfach, es ist gratis und in grosser Menge vorhanden. Hoffnung aber kostet, denn es ist eine anstrengende Arbeit. Man muss bereit sein, diese Investition zu leisten. (…) Es ist nicht wichtig, Grund zur Hoffnung zu haben, wichtig ist, dass man sie hat.»

In seinem ersten Roman stellt sich Usama Al Shamani seiner Geschichte und transformiert sie mit leichter Hand in tiefgründige Prosa, die paradoxerweise verstört und beglückt. Im Land des berühmten Spaziergängers Robert Walser hat ein irakischer Autor seine literarische Sprache im Deutschen gefunden.

Usama Al Shamani studierte arabische Sprache und Literatur. Neben seiner Autorenarbeit ist er als Übersetzer und Kulturvermittler tätig. Für seinen Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch erhielt er den TERRA NOVA PREIS der Schweizerischen SCHILLERSTIFTUNG. 2019 wurde ihm ein Förderbeitrag des Kantons Thurgau zugesprochen. Usama Al Shamani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.

Usama Al Shamani. In der Fremde sprechen die Bäume arabisch.
Zürich: Limmat Verlag, 2018. 192 Seiten.

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