Claudia Balocco ist bei Microsoft für Bildungsinitiativen in der Schweiz zuständig. Sie sieht den Zugang der Lehrpersonen zu technologischen Mitteln als wichtigen Erfolgsfaktor für den Einsatz von digitalen Medien. Und sie erklärt, weshalb die Integration von Medien und Informatik im Unterricht zur Chancengleichheit beiträgt.
Akzente: Wo steht die Schweizer Volksschule im Bereich des digitalen
Lernens?
Claudia Balocco: Es gibt sehr grosse Unterschiede zwischen den Schulen, aber auch innerhalb der einzelnen Schulen. Einzelne Lehrpersonen arbeiten schon sehr transformativ, das heisst, sie unterrichten mit digitalen Medien anders als ohne diese. Andere nützen Computer oder Tablets primär für Internetrecherchen. Ich würde digitales Lernen grundsätzlich also noch nicht als Mainstream bezeichnen, doch die Diskussion um den Lehrplan 21 hat an den Schulen ein grosses Interesse für die Themen Medien und Informatik ausgelöst. Im Moment beobachten wir eine grosse technische Aufrüstung an den Schulen. Mit der Anschaffung von Geräten ist es allerdings noch nicht getan.
Was braucht es für einen sinnvollen Einsatz von digitalen Medien im Unterricht?
Eine wichtige Voraussetzung ist die Vertrautheit der Lehrpersonen mit den technologischen Mitteln. In der Vergangenheit haben sich Lehrpersonen oft von neuen Medien abgewandt, wenn etwas nicht funktionierte oder zu lange dauerte. Bei Anschaffungen von Geräten empfehle ich deshalb immer, dass Lehrpersonen die Geräte mindestens sechs Monate vor den Schülerinnen und Schülern erhalten, um sich mit diesen vertraut zu machen. Sehr wichtig sind auch eine solide Weiterbildung und Gelegenheit zum Austausch im Team. Damit meine ich, dass man Lernmaterialien und Ideen für die Unterrichtsgestaltung mit digitalen Medien im Team oder in der Fachgruppe austauschen und diskutieren kann. Zudem brauchen Lehrpersonen eine umfassende Unterstützung am Arbeitsort, im Idealfall durch einen pädagogischen ICT-Support.
Welche Rolle hat dabei die Schulleitung?
Die Schulleitung hat eine zentrale Funktion. Sie soll nicht nur Weiterbildungsprozesse begleiten, sondern die Lehrpersonen für den Einsatz von digitalen Medien motivieren und loben, aber durchaus auch deren Nutzung einfordern. Etwa, dass man im Team Protokolle nur noch digital ablegt oder digitale Kalender nutzt, um vertraut zu werden mit digitalen Medien. Studien zeigen, dass Schulen, an denen sich Leitungsteams früh mit ICT-Fragen auseinandersetzten, im Bereich des digitalen Lernens am weitesten sind. Wenn Lehrpersonen an ihrer Schule Unterstützung bei ICT-Fragen erhalten, kann man auch bessere Lernergebnisse bei den Schülerinnen und Schülern nachweisen.
Wo sehen Sie den konkreten Mehrwert von digitalen Medien im Unterricht?
Zunächst ist digitales Lernen schlicht ein Gebot der Zeit. Wenn Kinder im Alltag ständig mit Smartphones und Tablets in Berührung kommen, aber digitale Medien in der Schule ausgeblendet würden, wäre dies nicht mehr zeitgemäss. Mobile Geräte bieten viele Möglichkeiten, den Unterricht im Bereich der Kreativität und Mobilität zu bereichern. Kinder können mit Tablets rausgehen und Interviews mit Passanten führen oder Experten zu einem Thema virtuell, etwa per Skype, ins Schulzimmer holen. Digitale Medien unterstützen zudem die Förderung von Kompetenzen im Bereich der Kommunikation und Kollaboration. Dies sind in der Berufswelt sehr gefragte Fähigkeiten, die man nicht an Roboter oder Apps auslagern kann. Zudem können Lerninhalte besser auf das Niveau, die Bedürfnisse und das Lerntempo der Schülerinnen und Schüler zugeschnitten werden. Zuletzt ist der Einsatz von digitalen Medien auch im Hinblick auf die Chancengleichheit wichtig.
Was meinen Sie damit?
Digitale Werkzeuge haben im späteren Berufsleben eine wichtige Bedeutung. Deshalb muss die Schule sicherstellen, dass alle Schülerinnen und Schüler diese nach Abschluss der Schulzeit einordnen und kompetent nutzen können. Würde der Umgang mit Computer und Informatik nicht in der Schule erlernt, wären Kinder benachteiligt, die im Elternhaus nicht mit diesen in Berührung kommen. Darüber hinaus bieten digitale Medien auch hinsichtlich der Inklusion von Kindern mit Beeinträchtigungen grosse Vorteile. Beispielsweise können sich Kinder mit Sehbehinderung Texte heute vorlesen lassen. Texte können auch leicht in unterschiedlichen Grössen und Kontrasten angezeigt werden.
Mit dem Lehrplan 21 wird Informatik zum integralen Teil des Unterrichts. Inwiefern profitieren die Schülerinnen und Schüler von diesem neuen Unterrichtsbereich?
Für ein Verständnis unserer Welt ist es wichtig, Grundkonzepte der Informatik kennenzulernen. Vom Smartphone bis zum Kassensystem sind wir täglich mit Programmen konfrontiert, die auf Algorithmen basieren. Kinder sollen die Mechanismen hinter diesen Apps und Anwendungen kennen und beispielsweise verstehen, warum eine Suchmaschine gewisse Suchergebnisse liefert oder eine App eine Aktion ausführt. Wichtig finde ich auch, dass Mädchen in der Schule mit dem Informatikunterricht an neue Technologien herangeführt werden und Lust auf Informatik erhalten. Mädchen lassen sich oft vom Technischen und Mathematischen abhalten. Spannender Informatikunterricht kann dem entgegenwirken.
Wie stark muss sich der Unterricht durch den Einsatz von digitalen Medien verändern?
Schön wäre, wenn Lehrpersonen den Unterricht mit digitalen Medien anders gestalten können als ohne. Aber das geschieht nicht von heute auf morgen. Für viele Lehrerinnen und Lehrer ist es nicht einfach, die Geräte zu integrieren. Das höre ich von verschiedenen Seiten und habe es auch direkt bei meinem Mann, der Sekundarlehrer ist, miterlebt. Der Einsatz von Medien entwickelt sich langsam. In einem ersten Schritt wird ein Arbeitsblatt nur digitalisiert, im nächsten Schritt wird vielleicht bei einem Projekt ein Experte per Skype hinzugeholt. Mit viel Erfahrung komme ich irgendwann auf Ideen, die den Lernprozess positiv verändern. Es ist nicht nötig und wäre auch sehr anstrengend, immer auf der letzten, transformativen Stufe zu unterrichten, auf der digitale Medien den Unterricht grundlegend verändern. Es ist auch gut, wenn die Lehrperson im altbekannten Frontalunterricht unterrichtet.
Die PH Zürich untersucht in einem aktuellen Forschungsprojekt den Einsatz von Augmented-Reality-Brillen in der Ausbildung von angehenden Sekundarlehrpersonen. Werden Technologien wie diese bald in den Schulen Einzug halten?
Heute sind solche Brillen noch verhältnismässig teuer und es gibt zu wenig nutzbare Lerninhalte. Grosse internationale Lehrmittelverlage investieren jedoch viel Geld in den Bereich Virtual und Augmented Reality. Hingegen wird das Thema künstliche Intelligenz meiner Meinung nach schon bald auf die Schulen zukommen, beispielsweise in Form von selbstlernenden Programmen, die Unterrichtsaufgaben den Kenntnissen der Schülerinnen und Schüler anpassen können. Wenn ein solches Lernprogramm etwa erkennt, bei welchen Textstellen ein Kind beim Lesen immer wieder stolpert, kann es ihm sehr gezielte Leseübungen anbieten. In den nächsten Jahren werden wir wohl mit der Frage konfrontiert sein, ob und wie wir erfasste Daten über das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern nutzen wollen, um Lernprozesse zu verbessern oder individueller zu gestalten. Natürlich muss dabei gut geklärt sein, wie Daten genutzt werden dürfen.
Angesichts solcher Entwicklungen stellt sich die Frage nach der Rolle der Lehrperson. Was ist hier Ihre Prognose?
Eines vorweg: Die Lehrperson wird nicht ersetzt werden. Es braucht immer Lehrerinnen und Lehrer, die Lernprozesse anleiten und den didaktischen und pädagogischen Rahmen bieten. Aber ihre Rolle verändert sich auf jeden Fall. Im angelsächsischen Raum gibt es einen guten Ausdruck dafür: «From sage on the stage to guide on the side» (vom Weisen auf der Bühne zum Begleiter an der Seite). Die Lehrperson ist nicht mehr die Person, die das Wissen zentral besitzt und vermittelt, sondern Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernen coacht und begleitet. Dieses Selbstverständnis ist heute schon bei vielen Lehrpersonen vorhanden. Gerade in ICT-Fragen ist die Lehrperson vielleicht auch einmal nicht mehr die Person, die am meisten weiss. Da ist Gelassenheit gefragt.
Ein sehr guter Beitrag. Die technische Umsetzung und die Werkzeuge sind das Eine. Die eigentliche Herausforderung liegt im erfolgreichen „Onboarding“ der Lehrpersonen. Auch wir als Education-Partner sind der Auffassung, das die Lehrpersonen eine umfassende Unterstützung am Arbeitsort, im Idealfall durch einen pädagogischen ICT-Support benötigen. Letzteres ist das natürlich auch eine Frage des jeweiligen Budgets.