«Nästa: Arlanda!» – die Zugsdurchsage reisst mich aus meinen Gedanken, die in den Weiten der schwedischen Landschaft versunken waren. Vor zwei Stunden bin ich in Norrköping eingestiegen. Der Zufall will es, dass ich dort gleich zwei Berührungspunkte habe: meine Schwester und unser Erasmus-Kooperationsteam. Erstere ist gelernte Primarlehrerin – notabene Absolventin der PH Zürich – und lebt seit acht Jahren im Norden. Letzteres ist eine Forschungsgruppe der Universität, die sich mit der Verzahnung von Unterricht und Erziehung an Schulen beschäftigt. Diese sogenannte «Freizeitpädagogik» hat einen fi xen Platz im schwedischen Schulalltag, wo formales und non-formales Lernen stark zusammengedacht werden.
In der Schweiz geht die Entwicklung von Tagesschulen eher langsam voran – eine Konsequenz des traditionellen Verständnisses von Familie, frage ich mich? Die Familie scheint in Schweden noch stärker von der Gesellschaft getragen zu werden als bei uns. Meine Schwester beispielsweise gibt einen grossen Teil ihres Einkommens als Lehrerin für die Steuern ab. Zwar beklagte sie sich früher auch immer wieder darüber, dies änderte sich jedoch schlagartig, als sie Mutter wurde. Dann gibt’s nämlich 480 Tage Elternurlaub, danach wartet die supergünstige «Dagis» (Kita), und die Schulkinder besuchen die Tagesschule, wo sie ganz selbstverständlich zu Mittag essen. In der von der PH Zürich in der Schweiz durchgeführten Interviewstudie «Verantwortlichkeiten in Tagesschulen» hat sich die Mittagszeit demgegenüber als grösster Unsicherheitsfaktor erwiesen: Wer ist dafür zuständig, dass alle schön brav essen? Sind die Kinder nicht überfordert in solch grossen Gruppen und lauten Hallen? Ist das Essen auch wirklich bio und ausgewogen und holt das Kind nicht immer nur die Pommes frites und lässt das Gemüse im Schulrucksack verschwinden? Da war es umso interessanter, als das schwedische Forschungsteam uns einen typischen Schulwochenplan vorstellte und die Mittagszeit nicht einmal explizit eingezeichnet war. Unsere Bedenken scheinen sich dort in keinster Weise zu zeigen.
Nebst dem Reissverschluss und Ikea haben die Schweden auch die perfekte Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfunden. Während bei uns viele Veranstaltungen erst um 18 Uhr beginnen, wird man im Norden schräg angeschaut, wenn man dann noch im Büro sitzt – du hast doch Familie, was machst denn du noch hier?! Zudem nehmen sie Personeneinteilungen etwas gelassener: Die Schulkinder duzen ihre Lehrpersonen, und seit Jahren findet man auf amtlichen Formularen nebst «weiblich» und «männlich» die Kategorie «anderes». Und kreativ sind sie auch noch: Ein frisch vermähltes Ehepaar darf einen eigenen Familiennamen kreieren! Das stell ich mir für die Schweiz toll vor: Die Eheleute Schmid/Meier heissen neu Schmeier, und Kellermann/Hassel verschmelzen zu Kellerassel, wie romantisch!
Wahrscheinlich finden uns die Schweden angesichts unseres traditionellen Weltbilds komplett rückständig. Umso mehr, wenn sie hören, dass wir alljährlich den Böögg verbrennen, denn «bög» heisst bei ihnen «schwul». Aber das fällt dann wohl eher unter das Kapitel «interkulturelle Verständigung».