
Drei Geschwister finden sich im Zimmer eines Sanatoriums wieder, in dem Thedor, der jüngere Bruder, behandelt wird. Altersmässig stehen sie mitten im Leben, die Situation erscheint aber Lorenz, dem älteren Bruder, «als wäre es wie früher». Und so vereint scheinen die drei nun zu sein, dass die Ich-Erzählung von Lorenz im kollektiven Wir endet. «Wir träumen, erwachen, träumen, sinken, steigen auf und lassen uns treiben. Wir spielen. Etwas anderes haben wir nie getan, zu etwas anderem taugen wir nicht.»
Das ist das Schlussbild, die Schlusssätze des neuen Romans Der Vogelgott von Susanne Röckel. Die drei Geschwister sind am Ende einer langen Reise, einer gralsähnlichen Suche angelangt. Ein Erbe ihres Vaters Konrad Weyde. Seine Erbsünde.
Weyde war als Hobby-Ornithologe «in einem von der Zeit vergessenen Dorf» auf der Suche nach einem Riesenvogel, in einem Land, dessen Bewohner diesen Vogel Greif als Gottheit verehrten und die Jagd auf ihn nicht erlaubten. Weyde verhält sich gegenüber den Bewohnern wie ein Kolonialherr, der auf seinem vermeintlichen Recht besteht. Seine Zivilisierungsmission ist die Eroberung der Natur in Gestalt des Riesenvogels. Tatsächlich wird der ausgestopfte Vogel später das Prunkstück von Weydes Sammlung darstellen, freuen kann er sich nicht mehr. Denn diese Reise brachte ihm zwar eine transzendente Erfahrung, sein Selbst- und Weltbild gingen jedoch zutiefst erschüttert und verstört daraus hervor.
Der Bericht des Vaters bildet den Prolog dieses multiperspektivischen Romans, den weitere Berichte – Selbstvergewisserungen, Rechtfertigungsversuche oder Erklärungen – der drei Kinder ergänzen. Thedor wird aus seinem verlorenen Dasein als Studienabbrecher für eine wichtige Mission in Aza, einem Land, das wohl in Afrika liegt, angeworben. «Save the World» heisst die Organisation, die ihm kurzfristig zu einem Lebenssinn verhilft. Vor Ort dann wird er zur Untätigkeit verdammt, seine Fragen bleiben unbeantwortet, es gibt Gerüchte von Bürgerkriegsmassakern und heidnischen Opferritualen mit vogelähnlichen Kreaturen. Eine kafkaeske Welt, die im Herz der Finsternis mündet. Thedors geistiger Zustand bei seiner Rückkehr erinnert an traumatisierte Kriegsveteranen. «Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Ich müsse erkennen, dass ich keine Schuld trage, sagen sie.» In den Therapiesitzungen stammelt er unzusammenhängend, ihm bleibt nur das Medium der Schrift, um sich zu erklären. Eine spannende und rätselhafte Geschichte.
Dora kommt als Kunsthistorikerin dem düsteren Geheimnis hinter einem Altarbild, das sie aus der Kindheit kennt, auf die Spur. Diese Forschungsarbeit, in der sich Bilder, Mythen und Personal der vorhergehenden Berichte variantenreich fortsetzen, entbehrt laut ihrem Doktorvater jeder Glaubwürdigkeit und führt sie in eine berufliche Sackgasse. Ihre wundersam akribische Erzählung erscheint wie die Apologie ihrer Entscheidungen oder eine Verweigerung des Scheiterns. Der ältere Bruder Lorenz schliesslich verfolgt als Journalist eine sensationelle Geschichte, die ihm weder der Chefredaktor noch seine Frau glauben. Er kann sie nicht verkaufen, seine Frau schickt ihn schliesslich zum Arzt. Auch er kann sein Wissen und seine Erkenntnisse der Umgebung nicht vermitteln. Lorenz verliert seine berufliche und private Existenz und auch ihm bleibt nur, sich schriftlich mitzuteilen. Eine Familie der zerstörten Existenzen, die Berichte sind die Krumen ihrer Identitäten. Wir lesen, was von ihnen übrig geblieben ist.
Wie zuvor der Vater wurden auch die Geschwister durch die Auseinandersetzung, die Begegnung mit dem mystischen Riesenvogel in ihrem Selbstverständnis zutiefst erschüttert – und offensichtlich auch erleuchtet. Gott und Teufel zugleich. Und so verschmelzen Wirklichkeit und Wahn, Mensch und Tier, Innenwelt und Aussenwelt miteinander – jedes Bestreben nach Vernunft und Rationalität greift für die Protagonisten – und auch die Leser – ins Leere.
Susanne Röckels Der Vogelgott wurde für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert. Der Roman ist ein Solitär in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sprachlich unglaublich elegant, inhaltlich verstörend und mit unentrinnbarer Sogwirkung ist Susanne Röckel die zeitgenössische Version eines schwarzromantischen Schauerromans gelungen.
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