Kooperativ lernen mit Wasser, Waage und Würfel

Zusammen oder allein? Diese Frage beschäftigt Philippe Minet in seiner Masterarbeit. Der angehende Sekundarlehrer untersucht, ob sich kooperatives Lernen auch für die Naturwissenschaften eignet und ob die Schülerinnen und Schüler dabei fachlich dazulernen. In einer Zürcher Versuchsklasse wirkte sein Unterricht auf jeden Fall anregend.

Fotos: Nelly Rodriguez
Fotos: Nelly Rodriguez

Rodrigo hält den Messzylinder unter den Wasserhahn. Während ein dünner Strahl ins Gefäss fliesst, kneift er ein Auge zu und beobachtet die Messlinie genau. Bei 100 Milliliter zieht er den Zylinder rasch zurück und kippt den Inhalt in den gelben Plastikbecher. Nachdem der Erstsekundarschüler dieselbe Handlung zweimal wiederholt hat, ist das Gefäss fast voll. «Noch 20 Milliliter», schätzt seine Mitschülerin Naomi und neigt den Kopf zum Becherrand, während Rodrigo tröpfchenweise auffüllt, bis sich der Wasserspiegel leicht wölbt. Beim nächsten Tropfen läuft das Gefäss über. Es bildet sich eine kleine Lache auf dem Pult.

Eben waren die Schülerinnen und Schüler des Zürcher Schulhauses Letzi an diesem Dezembermorgen noch schlaftrunken ins Chemiezimmer geschlichen und hatten sich gähnend an ihre Plätze verdrückt. Doch nun, eine halbe Stunde später, wirken sie hellwach. Schliesslich steht etwas Besonderes auf dem Programm: An Stelle des Klassenlehrers gestaltet ein Student der PH Zürich die Doppelstunde. Die 18 Jugendlichen dürfen selber in die Rolle von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern schlüpfen und erfahren, wie diese arbeiten. Und was sie nicht wissen: Gleichzeitig ist der Unterricht Gegenstand eines Forschungsprojekts. Im Rahmen seiner Masterarbeit testet Philippe Minet verschiedene Unterrichtsformen aus und vergleicht sie miteinander. Er will herausfinden, wie sich kooperative Lernformen auf den Wissenszuwachs auswirken. «Während der Zusammenhang zwischen Sozialkompetenzen und kooperativem Lernen bereits mehrfach untersucht wurde, gibt es hier noch kaum Studien», sagt der 23-Jährige.

Im ersten Teil der Arbeit lesen die Schülerinnen und Schüler selbständig einen Text.
Im ersten Teil der Arbeit lesen die Schülerinnen und Schüler selbständig einen Text.

Rollenzuteilung hilft Trittbrettfahren vermeiden
Bevor die Klasse jetzt experimentiert, befasste sie sich in Vierergruppen mit den Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei ging sie nach dem sogenannten Think-Pair-Share-Muster vor. Dabei gilt es, zuerst einen Text alleine zu lesen und sich darüber Gedanken zu machen. Jede Schülerin und jeder Schüler hat dazu eine bestimmte Rolle zugeteilt bekommen; während die einen zum Beispiel unklare Begriffe markieren, notieren sich andere Fragen, die der Text beantwortet. «Damit versuche ich zu vermeiden, dass einzelne passiv bleiben und zu Trittbrettfahrern werden», erklärt Minet. In der Pair-Phase werden die Erkenntnisse in der Gruppe diskutiert. Die Möglichkeit zum Austausch decke gleichzeitig das natürliche Bedürfnis ab, miteinander zu sprechen, sagt Minet. «So kommt es weniger zu Störungen.» Dann folgt der Versuch mit dem Wasserbecher. In der darauf folgenden Share-Phase trifft sich je eine Person aus jeder Gruppe zu einem Erfahrungsaustausch. Damit sollen die frischen Erkenntnisse in Worte gefasst und gefestigt werden. Während die Schüler und Schülerinnen selber aktiv sind und mit anderen interagieren, hält sich Minet vorwiegend im Hintergrund. «Ich muss nur hin und wieder etwas steuern», sagt der angehende Sekundarlehrer, der sich bereits einmal im Rahmen einer Arbeit an der PH Zürich mit kooperativen Lernformen befasst hat.

Philippe Minet führt die beiden Doppelstunden mit drei verschiedenen Sekundarschule-A-Klassen der ersten Stufe durch. Während zwei davon in kooperativer Form lernen, arbeiten diejenigen der Kontrollklasse individuell. Sie können den Text nicht mit anderen besprechen, dürfen unbekannte Begriffe dafür aber auf dem Smartphone nachschauen. Die Experimente führen sie alleine durch. Am Anfang und am Schluss der vier Lektionen füllen alle drei Klassen einen Fragebogen am Computer aus. Sie müssen zum Beispiel Aussagen bewerten wie: «Es ist nicht wichtig, Experimente mehr als einmal durchzuführen, um Ergebnisse abzusichern» oder «Naturwissenschaftliche Theorien verändern und entwickeln sich mit der Zeit». In der Auswertung wird Minet die Antworten vergleichen und herausfinden, ob sich der Wissenszuwachs bei den verschieden unterrichteten Klassen unterscheidet. Es ist ihm bewusst, dass die Stichprobe etwas klein ist, um repräsentative Aussagen zu machen. Wichtig ist ihm jedoch, dass die drei Klassen möglichst ähnlich sind – also aus dem gleichen Schulhaus, derselben Stufe und im gleichen Niveau. «So kann ich Störfaktoren ausschliessen», sagt er. Auch hätte eine breiter angelegte Studie den Rahmen einer Masterarbeit gesprengt.

Student Philippe Minet untersucht in seiner Masterarbeit, wie sich kooperatives Lernen auf den Wissenszuwachs auswirkt.
Student Philippe Minet untersucht in seiner Masterarbeit, wie sich kooperatives Lernen auf den Wissenszuwachs auswirkt.

Mehr als eine Gruppenarbeit
Die Anwendung der kooperativen Lernform in den Naturwissenschaften sei innovativ, findet Dozent Martin Keller, der die Masterarbeit von Philippe Minet betreut. «Ich bin beeindruckt von diesem zweigleisigen Ansatz», sagt der Spezialist für kooperatives Lernen. Generell komme diese didaktische Methode häufiger in sprachlichen Fächern oder in Bereichen mit Diskussionspotenzial zum Einsatz als in den Naturwissenschaften. Doch auch naturwissenschaftliche Fächer könnten vermehrt davon profitieren, ist Keller überzeugt. «So können die Kinder während eines grossen Teils der Lektion selber aktiv sein. Das vermittelt ein ganz anderes Bild der Chemie oder Physik, als wenn der Lehrer vorne etwas zeigt, das diejenigen in den hinteren Reihen nur halb mitbekommen.»

Generell werde der Nutzen der kooperativen Lernformen unterschätzt, sagt der Dozent, der regelmässig Weiterbildungen zu diesem Thema erteilt und Lehrerteams coacht. «Das Vorurteil hält sich hartnäckig, dass starke Schülerinnen und Schüler die Aufgabe an sich reissen und schwächere sich drücken.» Dabei hätten Praxiserfahrungen und die Forschung gezeigt, dass das Phänomen der Trittbrettfahrer deutlich überschätzt wird. Kooperatives Lernen beinhalte weit mehr als banale Gruppenarbeiten, stellt Keller klar. Wichtig sei, dass die Aufgabenstellung sorgfältig durchdacht sei. Das Think-Pair-Share-Modell, kombiniert mit der Zuteilung verschiedener Rollen, stelle sicher, dass sich jeder Einzelne selber mit der Materie beschäftigt. Denn er weiss, dass er im Austausch mit dem Kollegen etwas liefern muss, und entwickelt deshalb einen gewissen Ehrgeiz.

Naturwissenschaften hautnah erfahren
Auch aus Sicht der Naturwissenschafts-Didaktik sei Philippe Minets Ansatz interessant, sagt Pitt Hild, der für die Betreuung des naturwissenschaftlichen Teils der Masterarbeit zuständig ist. Im neuen Lehrplan 21 würden übergeordnete Aspekte der Naturwissenschaften noch stärker gewichtet als bisher, sagt der PHZH-Dozent. Dazu gehören zum Beispiel die Genauigkeit der Messmethoden und die Wiederholbarkeit von Versuchen. «Die Schüler und Schülerinnen sollten praktische Erfahrungen machen können und lernen, wie Forschende ticken.» Es sei nicht einfach, Unterrichtsmaterialien mit einfachen, praktischen Versuchen zu finden, weiss Hild. Denn das neue Lehrmittel für die Oberstufe sei erst in Entwicklung. In der didaktischen Fachliteratur stiess Philippe Minet schliesslich auf zwei einfache Experimente, die sich sowohl für das kooperative als auch für das individuelle Lernen eignen. Neben jenem mit dem Wasserbecher wählte er eines, bei dem die jungen Wissenschaftler Salzwasser von Leitungswasser unterscheiden müssen, ohne mit der Zunge zu probieren. Als Lösungsmöglichkeiten boten sich Wägen, Verdampfen oder die Bestimmung der Dichte mit einem Karottenstück an: Während es im Leitungswasser versinkt, schwimmt es im Salzwasser.

Zur Berechnung des Fassungsvermögens des Bechers führt die Klasse den Versuch mehrfach durch.
Zur Berechnung des Fassungsvermögens des Bechers führt die Klasse den Versuch mehrfach durch.

Die Begeisterung der Jugendlichen für die Naturwissenschaften ist Philippe Minet ein wichtiges Anliegen. «Besonders Physik und Chemie kommen im Stoffplan eher zu kurz», findet der angehende Sekundarlehrer, der vor dem Gymnasium selber zwei Jahre in der Sekundarschule verbracht hat. In sein Studienprofil hat er deshalb unter anderem Mathematik und Naturwissenschaften gewählt. Mit geeigneten Experimenten gelinge es meist, auch die Mädchen abzuholen, macht Minet die Erfahrung. «Sie haben es weniger gern, wenn etwas explodiert, sprechen aber umso mehr auf Farben an.» Im Schulhaus Letzi absolvierte der Student aus Geroldswil bereits sein Schlusspraktikum und konnte so das Vertrauen des Lehrerteams gewinnen. Die Eltern informierte er mittels Brief über seine Studie.

Grundsatz des Forschens erfasst
Die Vierergruppe von Rodrigo und Naomi ist unterdessen bei der dritten Durchführung ihres Versuchs angekommen. Jedes Mal hat sie ein anderes Ergebnis erhalten: Fasst der Wasserbecher nun 315, 320 oder gar 325 Milliliter? Eliane dokumentiert die Resultate auf dem vorbereiteten Blatt. Neben dem Messzylinder nehmen die Jugendlichen nun auch noch die Holzwürfel zu Hilfe und füllen das Gefäss. Weil es rund ist, eignet sich die Methode aber kaum zur Bestimmung des Fassungsvermögens, erkennen sie schnell. Es entstehen zu viele Lücken zwischen den Würfeln.

«Wenn man das Wasser schneller hineinleert, läuft das Gefäss sofort über», hat Nemanja festgestellt. Beim langsamen Füllen dagegen wölbe sich der Wasserspiegel zuerst leicht über den Rand, teilt er seine Erfahrung beim Austausch mit anderen Gruppenmitgliedern. Dass am Schluss kein eindeutiges Resultat vorliegt, regt Rodrigo zu kritischer Reflexion an: «Wir hätten den Versuch ein viertes Mal durchführen sollen.» Diesem Schluss stimmt Chiara zu: «Man muss ein Experiment so lange machen, bis man mindestens zweimal auf das gleiche Ergebnis kommt.» Einen wichtigen Grundsatz wissenschaftlichen Arbeitens haben also die meisten Schülerinnen und Schüler an diesem Morgen verinnerlicht, wie sich auch bei der abschliessenden Online-Befragung zeigt. «Es war abwechslungsreich und wir konnten viel selber machen», sagt Rachel. Die sachgerechte Auswertung der Antworten wird Minet in den nächsten Monaten noch herausfordern. Auch den theoretischen Teil der Masterarbeit muss er fertig verschriftlichen, bis er sie voraussichtlich im nächsten Sommer einreicht. «Ich habe viel gelernt, das ich später anwenden will», sagt der Student.