Das unter der Projektleitung von Monika Reuschenbach entwickelte Geografie-Lehrmittel «Weltsicht» wurde 2018 mehrfach ausgezeichnet. Im Interview gibt die Professorin und Dozentin für Geografie und Geografiedidaktik an der PH Zürich Einblicke in den modernen Geografieunterricht und ihr Werk.
Akzente: Welches ist die Hauptstadt von Surinam?
Monika Reuschenbach: Da habe ich wirklich keine Ahnung.
Sie heisst Paramaribo. Sie scheinen als promovierte Geografin und Professorin nicht besonders beschämt zu sein über diese Wissenslücke.
Nein. Ganz und gar nicht. Wäre Paramaribo jedoch aus geografischer Sicht relevant, beispielsweise weil die dortige Bevölkerung zurzeit am stärksten wächst oder die Stadt ein Zentrum für den Handel oder Abbau eines seltenen Rohstoffs ist, dann würde ich jetzt wohl mit rotem Gesicht vor Ihnen sitzen.
Gehört das Auswendigkennen von Hauptstädten nicht mehr zum Bildungskanon modernen Geografieunterrichts?
Städte, Länder oder Flüsse sind natürlich nach wie vor wichtig, doch das ausschliessliche Auswendiglernen gehört seit längerer Zeit nicht mehr dazu. Schliesslich soll Geografieunterricht junge Menschen ja auf mehr vorbereiten als auf den ersten Platz im Spiel «Stadt- Land-Fluss». Moderner Unterricht stellt das Verstehen von Phänomenen und Prozessen auf der Erde ins Zentrum sowie ihre Wechselwirkungen mit dem menschlichen Handeln. Didaktisch knüpft er zudem enger an den Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler an als früher.
Wie lernen Schülerinnen und Schüler denn heute, sich geografisch zu orientieren?
Exemplarisch lässt sich das an der leeren Schweizer- und Weltkarte im neuen Lehrmittel «Weltsicht» aufzeigen. Auf diesen tragen die Schülerinnen und Schüler alle geografisch relevanten Informationen ein, die sie im Zusammenhang mit dem unterrichtsrelevanten Thema gelernt haben. Stehen beispielsweise «Verkehrswege» im Zentrum, dann werden unter anderem der Rhein eingezeichnet sowie die Städte Basel und Rotterdam. So wächst die anfänglich leere Karte allmählich und die Einträge werden mit thematisch verknüpften Lerninhalten gelernt.
Bei dem Lehrmittel «Weltsicht», das Sie ansprechen, waren Sie als Projektleiterin federführend. Es wurde 2018 mit dem «World-Didac-Award» und der Goldmedaille der «Best European Learning Material Awards» ausgezeichnet. Erstaunten Sie diese Ehrungen?
Sehr sogar. Natürlich erachteten wir «Weltsicht» selbst ebenfalls als gelungen, aber das geht wohl allen so, die Lehrmittel entwickeln. Die Preise waren eine grosse Überraschung und Freude für das gesamte Entwicklungsteam. Was mich besonders freut an diesen Auszeichnungen ist die symbolische Anerkennung der immensen Arbeit und Kreativität, die wir alle in dieses Projekt investiert haben.
Weshalb war der Aufwand für dieses Lehrmittel so hoch?
Insgesamt stecken rund fünf Jahre Entwicklungsarbeit in diesen drei Bänden. Lehrmittelentwicklungen sind grundsätzlich immer aufwendig, weil sehr viele Personen aus verschiedenen Bereichen und mit unterschiedlichen Interessen und Prioritäten zusammenarbeiten. Entsprechend viele Ressourcen müssen deshalb für Aushandlungs- und Koordinationsprozesse bereitgestellt werden. Bei «Weltsicht» kommt aber hinzu, dass es sich um eine Neukonzeption handelte, weshalb alles von Grund auf neu erarbeitet werden musste. Das betrifft nicht nur die Inhalte und die didaktische Ausrichtung, sondern auch die gesamte Gestaltung, die Tests im Schulfeld sowie zahlreiche weitere Bereiche. Insbesondere die teilweise Neukonzeption von Themen und die Schaffung einer komplett neuen Aufgabenkultur erforderten einen hohen Arbeitseinsatz.
Was gefällt Ihnen am besten an diesem ausgezeichneten Werk?
Ich würde sagen, seine Klarheit und Strukturiertheit. Kein einziges gestalterisches Element oder Bild ist zufällig eingesetzt und die Texte wurden in aufwendigen Prozessen so lange reduziert, bis in altersgerechter Sprache nur noch die Essenz übrigblieb. Zudem sind die Bilder, Texte, Karten und Grafiken des Lehrmittels in klarer Struktur miteinander verbunden. Das schafft Orientierung und erleichtert das kompetenzorientierte Unterrichten und das Lernen aus meiner Sicht ungemein. Damit kann man begeisternden Geografieunterricht machen.
Geografie hat Stunden eingebüsst auf der Lektionentafel der Volksschule. Betrübt Sie das?
Natürlich hätte ich es gerne anders, doch die Entscheide über Lektionentafeln fallen anderswo. Deshalb konzentriere ich mich lieber auf das, was ich mit meiner Arbeit bewegen kann. Indem ich etwa Lehrpersonen an der PH Zürich für den Geografieunterricht zu begeistern versuche oder Lehrmittel mitentwickle, die es trotz schwindenden Lektionen erlauben, die geografischen Kompetenzen von künftigen Generationen effizient aufzubauen. Und das betrübt mich keinesfalls.