Der Umgang mit Lob – der stärksten Waffe der Pädagogik – wurde in jüngster Zeit in der Presse und in Blogs kontrovers diskutiert und ist so in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Das Loben ist aufgrund inflationären Gebrauchs unter Beschuss geraten.
Kinder und Jugendliche für jede Regung zu loben, schadet. Zu viel Lob macht unselbstständig und führt zu Selbstüberschätzung, so der Kanon. Neue Impulse im Umgang mit Lob kommen vor allem aus Dänemark. Die Bücher des Familientherapeuten Jesper Juul oder der Psychotherapeutin Iben Dissing Sandahl zu diesem Thema sind internationale Bestseller.
Fest steht, dass alle Menschen Aufmerksamkeit brauchen. Kinder auf der Rutschbahn («Papa, schau her») ebenso wie Erwachsene («Ich habe einen Artikel geschrieben») wollen wahrgenommen werden. Menschen suchen das Fremdbild als Spiegelung ihrer Selbstwahrnehmung. So weit, so normal. Als Pädagogen erliegen wir oft der Versuchung, die Urteilskeule zu schwingen und reagieren auf Aufmerksamkeitsansprüche in Form von Lob und, seltener, Tadel. Wir sagen «toll gemacht; schöne Zeichnung; guter Text etc.», anstatt ein Produkt oder eine Handlung primär einmal als das wahrzunehmen, was es im Kern ist: eine Erfahrung. Jesper Juul schreibt, dass es Tendenzen gibt, jede Erfahrung als Leistung zu betrachten, die dadurch irrtümlicherweise urteilsbedürftig erscheint.
Im schulischen und akademischen Kontext sind Urteile über Texte allgegenwärtig. Das wird besonders deutlich, wenn wir als Lehrpersonen und Dozierende gut gemeinte Rückmeldungen auf Texte von Schülerinnen und Schülern und Studierenden geben. Die Schreibforschung zeigt, dass normorientierte Kommentare von Lehrpersonen auf Texte problematisch und wenig wirksam sind. Denn ein Text ist nur in wenigen Fällen als Leistung anzusehen, die eines Urteils bedarf. Texte, auch schulische, sind primär Ausdrucksmittel. Das Schreiben ist ein Prozess und somit eine – mitunter mühselige – Erfahrung. Wie kann man also auf Texte als Erfahrung so reagieren, dass die Rückmeldung die Schreibenden weiterbringt?
Aus der Schreibforschung ist bekannt: Anstelle von wertenden Urteilen verbessern sich Schreibende und ihre Texte, wenn das Feedback den Text genau beschreibt, und zwar anhand von Kriterien (z.B. Inhalt, Aufbau, Stil, Korrektheit) und mit Rückgriff auf die Schreibziele. Die Leserperspektive ist gefragt. Ein wirksames Feedback zeigt unter anderem auf, wie der Text aus Lesersicht wirkt, wo textlogische Brüche auftreten oder wo mehr inhaltliche Tiefe angezeigt ist. Weiter wirkungsvoll sind Selbsteinschätzungen zum eigenen Schreiben sowie Peerfeedback.
Bevor ich in der Schreibberatung ein Feedback auf einen Text gebe, denke ich deshalb an Dänemark, ans Schreiben als Erfahrung und gebe mir Mühe, den Text so präzise wie möglich aus Leserperspektive zu beschreiben. Mit Urteilen gehe ich sparsam um. Des Guten ist es schnell zu viel.
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