Neben der Bewältigung von akuten Streitsituationen gehört heute auch die vorbeugende Auseinandersetzung mit Konflikten zum Schulalltag. Dadurch sind sowohl Lehrpersonen als auch Schülerinnen und Schüler besser auf den Umgang mit Konfliktsituationen vorbereitet. Wegweisend ist dabei eine offensive und gleichzeitig gelassene Herangehensweise.
Cybermobbing, Eltern, die in der Schule mit einem Anwalt aufkreuzen, ein Team von Lehrpersonen, das geschlossen kündigt: Will man die Schule als Problemherd darstellen, findet man in den Medien genügend Stoff für ein solches Bild. Doch die Berichterstattung über Konflikte an Schulen fokussiert meist auf extreme Einzelfälle. «Konflikte haben an den Schulen kaum zugenommen. Vielmehr hat sich die Art und Weise verändert, wie wir mit dem Thema umgehen», sagt Regula Schümperli, die an der PH Zürich Lehrpersonen und Schulleitungen in schwierigen Konfliktsituationen berät. In den vergangenen Jahrzehnten habe die Sensibilisierung für Konflikte stark zugenommen, sagt Schümperli. Während in ihrer eigenen Ausbildung zur Lehrerin vor rund 40 Jahren Konflikte noch nicht als eigenes Thema gefasst wurden und spezifischen Konflikten im Schulfeld wenig Beachtung geschenkt wurde, wird der Umgang mit Konflikten heute in der Ausbildung thematisiert. Dadurch seien die Absolventinnen und Absolventen besser auf Konfliktsituationen vorbereitet, wenn sie in den Schuldienst treten. «Zudem haben sich die Strategien und der institutionelle Rahmen für die Konfliktlösung und -prävention verbessert», so Schümperli.
So sind Schulen mit schulübergreifenden Konzepten zum Umgang mit Konflikten und Gewalt, der unterstützenden Funktion der Schulleitung und dem verstärkten Einsatz von Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen als Ganzes besser aufgestellt, um schwierige Konfliktsituationen früh aufzufangen. «Gleichzeitig ist der Umgang mit Konflikten durch die intensivere Teamarbeit, die grössere Heterogenität und die zunehmende Vielfalt sozialer Normen komplexer geworden», so Schümperli.
Konstruktive Streitkultur
Ein idealer Umgang mit Konflikten lässt sich nicht anhand eines Modellfalls aufzeigen. Denn Konfliktsituationen, mit denen sich Lehrpersonen konfrontiert sehen, sind äusserst divers und verlangen nach unterschiedlichen Vorgehensweisen. Wenn eine Schülerin oder ein Schüler den Unterricht dauernd stört, sind andere Strategien gefragt als bei einer Auseinandersetzung mit Eltern oder wenn die Zusammenarbeit im Team harzt. «In jedem Konfliktfall ist aber eine konstruktive, lösungsorientierte Kommunikation gefragt», sagt Schümperli. Dies beinhaltet aktives Zuhören und Perspektivenwechsel, um der Wahrnehmung des Gegenübers Raum zu lassen, aber auch Klarheit über eigene Gefühle, Wünsche und Ziele, beispielsweise durch Ich-Botschaften. «Vor allem sollten Schuldzuweisungen vermieden werden», betont Schümperli. Neben einer lösungsorientierten Kommunikation bildet eine offensive Herangehensweise einen weiteren Grundsatz des guten Konfliktmanagements. Statt Konflikten auszuweichen und passiv abzuwarten, dass sich diese von selbst lösen, soll man sich Auseinandersetzungen aktiv stellen und Konflikte möglichst zeitnah lösen. Dafür braucht es laut Schümperli auch ein Stück Gelassenheit und das Bewusstsein, dass Konflikte, Wut und Enttäuschung Teil des Schulalltags sind.
Im Schulzimmer bedeutet diese offensive Haltung, dass die Lehrperson die Verantwortung für den sozialen Umgang und die Gruppendynamik in ihrer Klasse übernimmt und bei entstehenden Konflikten rasch eingreift. Diese Verantwortung schliesst auch Konflikte mit ein, die sich ausserhalb des Schulzimmers, etwa auf dem Pausenplatz abspielen. Um davon zu erfahren, muss eine Lehrperson achtsam auf Veränderungen im gemeinsamen Umgang sein und bei Anzeichen für Konflikte auch einmal ein Gespräch unter vier Augen suchen. Zudem soll sie ihren Schülerinnen und Schülern das Gefühl vermitteln, mit Problemen bei ihr stets willkommen zu sein. «Die Lehrperson soll aber nicht die Konflikte der Schülerinnen und Schüler lösen, sondern sie befähigen, diese zunehmend selbst zu lösen», sagt Peter Zoller, Dozent an der PH Zürich für Kommunikation und Konfliktmanagement. Das Ziel im Klassenzimmer ist also nicht Konfliktfreiheit, sondern Konfliktfähigkeit. Dies erfordert zunächst, dass verbindliche Regeln für den gemeinsamen Umgang aufgestellt und auch konsequent eingefordert werden. Zoller unterstreicht dabei die wichtige Vorbildfunktion der Lehrerinnen und Lehrer: «Die Lehrperson muss einen respektvollen Umgang und einen guten Konfliktlösungsstil selbst konsequent vorleben.»
Eine konstruktive Streitkultur sollte mit der Klasse zudem explizit thematisiert und eingeübt werden. Dies gelingt nach Zoller am besten mit modellhaften Abläufen und symbolträchtigen Hilfsmitteln. Als Beispiel nennt er das sogenannte Friedensseil, ein Seil mit mehreren Knöpfen. Bei einem Streitfall positionieren sich zwei Streithähne an den jeweiligen Enden dieses Seils mit dem Ziel, im Gespräch die Knöpfe des Konflikts zu lösen. Beim ersten Knopf schildern beide Seiten ihre Version des Problems, beim zweiten werden Gefühle und beim dritten Knopf Wünsche ausgesprochen. Der letzte Knopf wird erst aufgeknüpft, wenn die beiden eine Lösung des Problems gefunden haben. «So lernen Kinder in einem Streitfall, die Sichtweise des anderen wahrzunehmen und unterschiedliche Bedürfnisse in einem Kompromiss unterzubringen», erklärt Zoller.
Konfliktfähigkeit als Langzeitprojekt
Neben solchen Hilfsmitteln brauchen Schülerinnen und Schüler auch fixe Gefässe, in denen sie eine konstruktive Streitkultur einüben können. «Der Klassenrat spielt dabei eine eminent wichtige Rolle», sagt Zoller. Zum einen schafft er Raum, um vorhandene Probleme in der Gruppe auszudiskutieren und an realen Problemen Konfliktlösungsstrategien zu erarbeiten. Zum anderen ist er auch Ort für die Beziehungspflege. Denn im Konfliktfall – ob zwischen Lehrperson und Klasse oder den einzelnen Schülerinnen und Schülern – sind gute Beziehungen und ein Vertrauensverhältnis gemäss Zoller matchentscheidend. An Beziehungen und Konfliktfähigkeit soll jedoch nicht nur im Streitfall gearbeitet werden. Eine Frage wie «Wie haben wir diese Woche miteinander gearbeitet?» gehört auch in guten Zeiten in den Klassenrat.
Obwohl der Klassenrat als Prinzip in den Schulen flächendeckend Einzug gefunden hat, ist seine konsequente Durchführung laut Zoller keineswegs selbstverständlich. Bei seinen Studierenden muss er sich immer wieder dafür einsetzen, dass sie den Klassenrat in der Praxis auch dann abhalten, wenn von der Klasse keine Themen eingebracht werden. «Wenn vordergründig keine Probleme sichtbar sind, kann ein solches Zeitfenster, das nicht in der Stundentafel abgebildet ist, im dichten Schulalltag schnell einmal wegfallen.» Die konsequente Durchführung ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil im Klassenrat manchmal auch Probleme zum Vorschein kommen, die sich der Lehrperson im Schulzimmer gerade nicht unmittelbar zeigen.
Otto Bandli, Dozent für die Themen Mobbing und Gewalt, unterstreicht auch mit Blick auf das Thema Mobbing die Bedeutung des regelmässig durchgeführten Klassenrats: «Um gegen Mobbing vorgehen zu können, müssen Lehrpersonen wissen, was sich ausserhalb des Schulzimmers unter den Schülerinnen und Schülern abspielt. Und dafür braucht es neben vertrauensvollen Einzelgesprächen auch regelmässige Klassengespräche.» Diese haben noch zusätzlich an Bedeutung gewonnen, seit sich Mobbing mit der Verbreitung von Social Media in digitalen Räumen fortsetzt, welche für Lehrpersonen gewöhnlich nicht einsehbar sind. Bandli weist jedoch darauf hin, dass diese Ausgangslage für Lehrpersonen nicht neu ist: «Mobbing findet grundsätzlich nicht vor den Lehrpersonen statt, sondern erfolgt indirekt und verdeckt. Aus Scham und Angst schweigen die Opfer zudem sehr lange.»
Wichtig sei deshalb, dass Lehrpersonen die Anzeichen von Mobbing, die sich im Schulalltag zeigen, kennen und wahrnehmen, so Otto Bandli. Wenn sich jemand zurückzieht, sich die Gruppendynamik oder der Ton in der Klasse verändern, die Interaktion abnimmt oder weniger gelacht wird, gilt es diese Stimmungen und Spannungen anzusprechen. Bei Mobbingfällen muss sofort eingegriffen werden. «Für Mobbing und Gewalt muss Nulltoleranz gelten», so Bandli.
Mobbing und Gewalt sollten deshalb in der Schule nicht nur punktuell, etwa im Rahmen einer Präventionswoche thematisiert werden. «Gewalt- und Mobbingprävention ist ein alltägliches Geschäft», so Bandli. Neben der bewussten und konsequenten Arbeit an einer konstruktiven Streitkultur bezeichnet er das Schaffen eines guten Zusammenhalts als wichtiges Element einer effektiven Prävention. Um Gewalt und Mobbing entgegenzuwirken, gelte es mit gemeinschaftsfördernden Ritualen und gemeinsamen, auch klassenübergreifenden Erlebnissen ein positives Wir-Gefühl zu entwickeln. Für eine klare, gemeinsame Haltung gegenüber Mobbing und Gewalt brauche es aber auch schulübergreifende Präventionskonzepte. «Die Schulen stehen diesbezüglich heute viele stärker in der Pflicht und nehmen ihre Verantwortung auch wahr», so Bandli. Dass die Gewalt an den Schulen seit Jahren nachweislich rückläufig ist, führt er auf eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Problematik auf Seiten der Lehrpersonen und Schulen zurück, aber auch auf den Einsatz von wirksamen schulischen und ausserschulischen Präventionsprogrammen, welche mitunter erhöhte Sozialkompetenzen der Schülerinnen und Schüler als Resultat haben.
Gutes Rüstzeug
In einem Bereich haben sich die Konflikte an den Schulen allerdings vermehrt und auch verschärft. So ist die Zusammenarbeit mit Eltern in den letzten Jahren deutlich schwieriger geworden. «In der Sorge um eine möglichst gute Grundausbildung ihres Kindes begegnen Eltern den Lehrpersonen heute zum Teil mit sehr hohen Ansprüchen», sagt Bandli. Dass sich Eltern vermehrt für ihre Kinder einsetzen, findet er verständlich: «Der Qualitätsanspruch, dass das eigene Kind in der Schule optimal betreut wird, ist absolut legitim.» Eine gute Zusammenarbeit erfordert denn auch ein klares Bewusstsein für die unterschiedlichen Positionen von Eltern und Lehrperson: Die Rolle der Eltern sei es, sich für ihr Kind einzusetzen, während die Lehrperson sich um das Wohl und Lernverhalten der gesamten Klasse kümmern müsse, so Bandli. Diese Rollenverteilung müsse bei einem Elterngespräch geklärt werden, damit ein gegenseitiges Verständnis überhaupt möglich sei.
«Bei schwierigen Gesprächen, die einen aggressiven Ton annehmen, hilft unter anderem das Wissen, dass die Schulleitung jederzeit Unterstützung bieten kann», sagt dazu Peter Zoller. Wie bei Konflikten im Schulzimmer ist auch hier Hilfe von aussen je nach Fall angebracht: wenn die Situation die Möglichkeiten der Lehrperson überschreitet oder eine neutrale Aussenperspektive nötig ist. «Kommt mit der Schulleitung eine staatliche Hierarchiestufe hinzu, kann dies in einem Fall unterstützend und klärend wirken und in einem anderen Fall den Konflikt zusätzlich anheizen», sagt Zoller. Dieser Ermessensspielraum verlange von der Lehrperson viel Selbstsicherheit.
Zu Beginn des Studiums haben viele Studierende der PH Zürich besonders viel Respekt vor dem Elterngespräch. Im Laufe des Studiums legen sich solche Bedenken in der Regel, da die Studierenden mittels Kommunikationstrainigs, Rollenspielen und Filmanalysen umfangreich auf die Zusammenarbeit mit Eltern vorbereitet werden. Aufbauend auf eine Schulung in konstruktiver Kommunikation zu Beginn der Ausbildung besuchen die Studierenden parallel zu ihren Praktika Module in Konfliktmanagement und zur Elternzusammenarbeit. Im Studiengang auf Sekundarstufe und nach Wahl in den anderen Stufen absolvieren sie zudem eine Kompaktwoche zu Gewaltprävention und Mobbing. Grundsätzlich setzt die PH Zürich in der Ausbildung einen starken Fokus auf die Themen Konflikte, Gewalt und Mobbing. «Aus den Mentoraten habe ich den Eindruck, dass sich die Studierenden gut gerüstet fühlen für den Umgang mit Konflikten und gleichzeitig wissen, dass sich die konkreten Konfliktsituationen in der Berufspraxis nie durch die Ausbildung vorwegnehmen lassen», sagt Zoller. Im Hinblick auf Konflikte sind die intensive Betreuung und die Beratungsangebote in der sensiblen Phase des Berufseinstiegs besonders wichtig. So tauchen hier auch viele Fragen zu erlebten Konflikten auf.
Handlungsfähigkeit stärken
Bei Lehrpersonen mit mehr Erfahrung stossen Weiterbildungsangebote, in denen eigene Konflikte thematisiert werden, ebenfalls auf grosses Interesse. Auch Beratungsangebote für schwierige Konfliktfälle sind gemäss Regula Schümperli gut gefragt. «Bei schwierigen Konfliktfällen kann eine Aussensicht deeskalierend wirken», sagt sie. Ziel der Beratungen ist es, nach einer Auslegeordnung verschiedene Auswegmöglichkeiten zu skizzieren und dadurch die Handlungsfähigkeit wieder zu stärken. Zum Teil werden in den Beratungsgesprächen schwierige Gespräche konkret vorbereitet, etwa mit Eltern oder Vorgesetzten. Gemäss Schümperli waren nach der Einführung der Schulleitungen vermehrt Konflikte zwischen Lehrpersonen und ihren neuen Vorgesetzten zu beobachten, was jedoch ein normaler Prozess des Changemanagements ist. Inzwischen haben sich diese anfänglichen Schwierigkeiten gelegt und die Anzahl und Art der Konflikte zwischen Lehrpersonen und Schulleitungen gleicht denjenigen in anderen Organisationen mit Führungskräften. Im kollegialen Austausch und der gemeinsamen Reflexion des eigenen Umgangs mit Konflikten sieht Schümperli noch Verbesserungspotenzial: «Wir vergessen gerne, dass man den Umgang mit Konflikten nicht irgendwann abschliessend erlernt hat. Auch wir Erwachsenen müssen diesen immer wieder üben.»