«Bildung beginnt im Säuglingsalter»

Die Leiterin des Marie Meierhofer Instituts für das Kind, Heidi Simoni, hat den diesjährigen Bildungspreis der PH Zürich erhalten. Im Interview äussert sie sich zur Bedeutung der frühkindlichen Bildung und zur Verbindung von Wissenschaft und Praxis.

Heidi Simoni

Heidi Simoni, Bildungspreisträgerin 2018. Foto: Walter Aeschimann

Akzente: Einer Ihrer Schwerpunkte am Institut ist die Forschung zum Thema Kinder im Vorschulalter. Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte?
Heidi Simoni: Seit mehreren Jahren beschäftigen wir uns damit, wie junge Menschen die Welt erkunden und im Austausch mit ihrer Identität Kompetenzen erwerben. Wir forschen dazu hauptsächlich in Kindertagesstätten, weil viele Kinder heute vor allem in dieser Lebenswelt mit anderen Kindern in Kontakt sind.

Können Sie ein konkretes Projekt beschreiben?
Wir haben kürzlich ein grosses Projekt umgesetzt, bei dem es darum ging, Lernprozesse anzuregen und zu unterstützen. Unser Ansatz verfolgte dabei das Ziel, die Initiativen der Kinder verstärkt ins Zentrum zu rücken. Uns interessierte, was sich im Alltag der Kita verändert und ob Auswirkungen bei Kindern mit unterschiedlichen familiären Hintergründen feststellbar sind.

Welche Ergebnisse haben sich ergeben?
Bei den Erzieherinnen haben sich der Blick auf die Kinder und die Schwerpunkte ihrer Arbeit verändert. Der Austausch über die Interessen und das Lernen der einzelnen Kinder und der Kindergruppe verstärkte sich.

Stützt sich das Projekt auf eine bestimmte These?
Die Grundannahme ist, dass sich Kinder von der Geburt an aktiv mit sich und der Umwelt auseinandersetzen. Dies ist ihr Beitrag zu ihrer Entwicklung. Deshalb beginnt die Bildungsbiografie bereits im Säuglingsalter. Die Rolle der Erwachsenen ist es, sie fürsorglich zu begleiten und für eine anregende Umwelt zu sorgen. Die zentralen Fragen lauten also, wie Kleinkinder lernen und wie wir sie unterstützen können.

Welches übergeordnete Ziel verfolgen Sie an Ihrem Institut?
Unser Bestreben ist es, zu guten Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern beizutragen. Wir erarbeiten und sammeln dafür Grundlagen und vermitteln sie an Eltern und Fachpersonen. Junge Kinder lernen nicht in Lektionen, sondern eingebettet im Alltag, ganzheitlich und aktiv tätig. Eine Kita soll die ihr anvertrauten Kinder behüten, aber sie kann viel mehr. Damit sie in ihrer sprachlichen, emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung gut unterstützt werden können, ist auch der Dialog zwischen Eltern und Erzieherinnen oder Spielgruppenleiterinnen ausgesprochen wichtig.

Ist die Idee, Kinder dort zu fördern, wo spezifische Begabungen vermutet werden?
Es geht darum, jedem Kind die passende «Bildungsnahrung» anzubieten. Davon profitieren Kinder mit besonderen Bedürfnissen und Kinder mit besonderen Begabungen. Dazu ein Beispiel: Ein scheuer Junge, der kaum Deutsch sprach, tat sich anfänglich in der Kita schwer. Auf Spaziergängen ist er jedoch bei jeder Brücke fasziniert stehen geblieben. Das haben die Erzieherinnen beobachtet. Als unsere Forschenden später wieder in der Kita waren, hingen an den Wänden Bilder von Brücken. In der Bauecke waren Spuren statischer Experimente sichtbar. Offenbar hatte der Junge andere Kinder mit seiner Neugier angesteckt.

Wie gelangen Ihre Ergebnisse in die Praxis?
Wir machen Auswertungs- und Diskussionsrunden mit Fachleuten aus der Wissenschaft, der Praxis und manchmal auch aus der Verwaltung. Gerade Praktikerinnen und Praktiker ordnen gewisse Ergebnisse womöglich anders ein als wir. Die Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen hilft ihnen wiederum, ihre Praxiserfahrung zu reflektieren.

Wie nehmen Trägerschaften und Fachangestellte von Kitas Ihre Forschung auf?
Die Zusammenarbeit ist sehr gut. Dies verdanken wir sicher auch unserem Ruf, wonach wir uns tatsächlich mit den Anliegen der Praxis auseinandersetzen. Manchmal reiben sich die Erkenntnisse zu guter Praxis an der Realität. Kitas und Spielgruppen sind heute mit vielfältigen Ansprüchen und oft sehr knappen Ressourcen konfrontiert. Deshalb stehen wir erst recht für Qualitätsentwicklung ein. Es braucht gut ausgebildetes und ausreichend Personal für Kitas und Kindergärten.

Wie hat sich die Erziehung von Kindern im Vorschulalter verändert?
Wir wissen heute mehr darüber, dass und wie in der frühen Kindheit die Basis für die Gesundheits- und Bildungsbiografie gelegt wird. Vor 50 Jahren ging es vor allem darum, Kinder zu ernähren, zu hüten und in der Gruppe zu disziplinieren. Die Aufgaben haben sich seither deutlich verändert. Von grosser Bedeutung ist dabei die Frage, welches Rüstzeug Fachpersonen brauchen, um ihnen gerecht zu werden. Es geht also um Ausbildungsgänge und Professionalität.

Sie erhalten den Bildungspreis 2018 der PH Zürich. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Ich habe mich riesig gefreut. Der Preis ist eine tolle Anerkennung für das, was unser Institut seit jeher und nun auch mit mir als Leiterin in den letzten Jahren geleistet hat. Unsere Haltung, wonach bereits ein Säugling ein Gegenüber ist, und aktuelle Erkenntnisse, was eine sinnvolle frühe Förderung ausmacht, werden offensichtlich wahrgenommen.

Heidi Simoni hat seit 2007 die Leitung des Marie Meierhofer Instituts für das Kind inne. Zuvor leitete sie während rund sieben Jahren die Praxisforschung des Instituts. Für ihr Engagement im Bereich der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung erhielt sie Anfang November den Bildungspreis der PH Zürich.