Im Beruf soll die Leidenschaft an erster Stelle stehen, gefolgt von Pragmatismus. Sergio Casucci, Leiter des Bereichs Laufbahn am Laufbahnzentrum Zürich, spricht aus eigener Erfahrung.

Sergio Casucci, Leiter Bereich Laufbahn (Erwachsenenberatung) am Laufbahnzentrum. Foto: Nelly Rodriguez
Akzente: Sie waren Inhaber eines bekannten Zürcher Plattenladens, begannen mit 35 ein Psychologiestudium und sind heute Laufbahnberater. Wie sind Sie an diesen Punkt gekommen?
Casucci: Was nicht in meinem Lebenslauf steht: Ich begann nach der Matura Jus zu studieren. Nach eineinhalb Jahren brach ich ab, folgte meiner Leidenschaft für Musik und Platten und begann in einem Plattenladen zu arbeiten. Der Entscheid zu studieren war dagegen ein pragmatischer, die Wahl der Psychologie jedoch erneut interessengesteuert. Um die Jahrtausendwende führten Internet und Downloads zu schlechten wirtschaftlichen Perspektiven für das Plattengeschäft und ich musste überlegen, wie es weitergehen sollte. Nach dem Studium nahm ich eine Laufbahnberatung in An-
spruch und merkte dabei, dass ich genau das machen wollte, was meine Beraterin tat.
Können Sie benennen, welche Werte Ihre Laufbahn geprägt haben?
Es ist eine Mischung aus Leidenschaft, Glück und Pragmatismus. Seine Interessen zu verfolgen halte ich bei der Laufbahnplanung für absolut zentral, gleichzeitig sollte gerade bei Erwachsenen Pragmatismus eine wichtige Rolle spielen. Was ich auch betonen möchte, ist die Rolle des Arbeitsethos: also was es für jemanden bedeutet, zu arbeiten, Dinge zu erledigen. Das Arbeitsethos, das ich von meinen Eltern kennengelernt habe, half mir, immer 100 Prozent zu geben, wenn ich etwas anging. Das erwähne ich, weil ich als Berufsberater in der Stadt auch mit Jugendlichen zu tun habe, die zuhause kein positiv besetztes Bild von Arbeit oder Ausbildung vermittelt bekommen. Die Auswirkung davon können ein tieferer Selbstwert oder eine verminderte Selbstwirksamkeit sein, wobei diese auch später im Leben aufgebaut werden können.
Sie nennen Interessen und Pragmatismus als zentrale Punkte für die Laufbahnplanung. Können Sie ausführen, in welchem Verhältnis dies im Optimalfall stehen sollten?
Im Beruf sollte das Interesse an erster Stelle stehen. Trägt einen die Leidenschaft irgendwo hin, sollte man nebenbei einen Reality-Check durchführen, also überprüfen, worum es in einem Beruf oder bei einer Aus- oder Weiterbildung wirklich geht, was es dafür braucht und ob ein Entscheid wirklich dorthin führt, wo man hinwill. Diese intensive Auseinandersetzung mit Bildungs- und Berufswahlentscheidungen findet tendenziell zu wenig statt.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, um sich mit Fragen rund um die Laufbahn zu beschäftigen?
Ich zeichne hier gerne eine Analogie zur Fitness: Wenn man sich lange keine Gedanken über die berufliche Weiterentwicklung macht, hat das in der Regel Auswirkungen. Grundsätzlich sollte man ständig reflektieren, wo man steht und systematisch überprüfen: Passt es für mich noch? Weiss ich genug? Was kommt auf mich zu? Die Gefahr der Verdrängung ist im Arbeitsalltag relativ gross. Künftige Entwicklungen, etwa Veränderungen aufgrund der Digitalisierung, sollte man wahrnehmen und entsprechende nötige Schritte prüfen.
Was soll bei Weiterbildungen im Vordergrund stehen: die Karrieremöglichkeiten oder zusätzliches Know-how?
Der Entscheid für eine Weiterbildung sollte immer inhaltlich gesteuert sein und einen Zuwachs an Know-how mit sich bringen. In den technischen Berufen ist dies zwingend nötig, weil man sonst abgehängt wird. Dass eine Weiterbildung einen Karriereschritt ermöglicht, bezeichne ich als Kollateralnutzen. Fatal ist, wenn Leute eine Weiterbildung absolvieren mit dem Gefühl, dadurch garantiert einen Job oder eine bestimmte Position zu erhalten. Das ist ein Trugschluss. Generell ist es heute anspruchsvoller, die richtige Weiterbildung auszusuchen, gerade weil sich richtiggehend eine Bildungsindustrie entwickelt hat.
Lebenslanges Lernen gilt heute als eine Selbstverständlichkeit. Nehmen Sie manchmal auch einen gewissen Druck wahr, sich ständig weiterbilden zu müssen?
Bei der Frage, was sich jemand vom Beruf wünscht, gehören «abwechslungsreich» und «nicht langweilig» stets zu den Top-3-Antworten. Aber wenn es im Beruf tatsächlich abwechslungsreich ist und man sich mit etwas auseinandersetzen soll, was man noch nicht kann oder kennt, ist die Belastung eher die Regel als die Ausnahme. Die Kadenz der Erneuerung hat klar zugenommen. Das kann man beklagen oder als Chance sehen. Auch hier ist es eine Frage der Haltung.
Was braucht es, um gesteckte Ziele auch zu erreichen?
Hartnäckigkeit und Ausdauer sind dabei wichtig. Wann immer ich während meiner Schulzeit im Ausland war, suchte ich in Plattenläden rare Scheiben. Zur Hartnäckigkeit gehört auch eine hohe Frustrationstoleranz: dass man umfällt und wieder aufsteht, Niederlagen wegstecken kann und sich nicht verunsichern lässt. Das klingt einfach, muss aber erlernt werden. Eine wichtige Rolle spielt hier neben dem Elternhaus auch die Schule. In der Schweiz könnten wir noch stark darin zulegen, Misserfolge als Lernchancen zu sehen.
Wie treffen Jugendliche heute ihre Berufsentscheidungen?
Jugendliche müssen bei uns manchmal in einem kleinen Text beschreiben, wo sie sich in fünf bis zehn Jahren sehen. Da kommt sehr oft Materielles und selten Inhaltliches vor. Aber ich denke, das war früher nicht anders. Ich nehme Jugendliche als aufgeweckter, wacher und mutiger wahr als früher. Sie trauen sich mehr, das zu tun, worauf sie Lust haben. Ob dies dann gescheit oder richtig ist, ist eine andere Frage. Aber ich erlebe sie in ihrer Wahl als freier.
Die vielen Optionen verbunden mit dem Anspruch nach Selbstverwirklichung machen Entscheidungen aber auch nicht leichter.
Klar, Jugendliche können heute aus zig Möglichkeiten wählen und das ist schwierig. Doch unterstützt die grosse Wahlfreiheit tendenziell die Selbstwirksamkeit. Diese zu stärken ist auch ein Hauptfokus in unseren Beratungen. Wir möchten, dass Menschen sich selbst als Autoren ihres Lebens wahrnehmen und erkennen, wie viel sie selbst beeinflussen können. Gleichzeitig versuchen wir gerade jungen Personen immer wieder klarzumachen, dass Erfolg auch aufgrund der hohen Durchlässigkeit des Bildungssystems mehr auf Leistungsbereitschaft und Glück basiert als auf einzelnen Entscheiden, die man als 15-jähriger Teenager fällt.
Wie kann die Schule dazu beitragen, dass Jugendliche ihren eigenen Weg finden?
Diesbezüglich sehe ich im Lehrplan 21 mit der Stärkung der Berufsorientierung einen klaren Fortschritt. Zudem sollte die Zusammenarbeit zwischen Berufsberatungen und Schulen noch koordinierter erfolgen. Hier arbeiten wir mit dem Schulamt und Schulkreispräsidenten zurzeit an einem Projekt, um diese Zusammenarbeit strukturell zu fördern.