«Ich habe seit Jahrzehnten keine Prüfung mehr geschrieben»

Barbara Gabriel ist Mutter, Ehefrau und in der Gemeinde engagiert. Sie verfügt über ein abgeschlossenes Studium und war 19 Jahre berufstätig in verschiedenen Funktionen. Nun hat sie den Quereinstieg-Studiengang zur Primarlehrerin an der PH Zürich begonnen. Das bedeutet eine grosse Umstellung in allen Lebensbereichen. «Akzente» hat sie an zwei Tagen begleitet.

Madlaina und Ladina sind heute Morgen aufgedrehter als gewöhnlich, weil die Journalisten zu Besuch kommen. Madlaina (7) zeigt im Wohnzimmer auch sofort, wie gut sie mit dem Ball dribbeln kann. Eigentlich hat sie keine Zeit zum Trödeln, denn sie muss noch ihren Rucksack packen für die Schulreise. Während ihr die Mutter Schokoriegel, Früchte und einen Cervelat einpackt, füllt Madlaina Wasser in die Trinkflasche. Dann sprüht die Mutter auf dem Balkon Zeckenspray auf die Wanderhose. Der Vater reinigt derweil den Frühstückstisch. Ladina (10) putzt die Zähne.

«Im Moment habe ich alles relativ gut im Griff», sagt Barbara Gabriel. Und sie wirkt auch so: entspannt und souverän. «Aber fragen Sie mich in einem Jahr. Vielleicht sieht es dann anders aus», fügt sie lachend an. Die Umweltnaturwissenschafterin ETH hat im Januar den Quereinstieg-Studiengang zur Primarlehrerin an der PH Zürich begonnen. Die ersten drei Semester werden im Teilzeitstudium mit je drei Wochen Praktika absolviert. Dann folgen drei Semester mit einem Unterrichtspensum von 40 bis 60 Prozent sowie ergänzende Module. Das Studium ist eine neue Herausforderung in Barbara Gabriels Berufslaufbahn. Und sie muss auch Familie und Freizeit anders planen.

«Ich habe grosses Glück», beurteilt die 45-Jährige ihre allgemeine Situation. Die beiden Kinder seien eigenständig und hätten keine Probleme in der Schule. Und ihr Mann, der zeitlich eher flexibel sei, unterstütze sie. «Wenn er nicht einverstanden gewesen wäre, hätte ich das Studium vergessen können.» Damit der Tagesablauf reibungslos funktioniert, nutzen beide auch die Technik. Auf dem Online-Planer sind die Termine farblich zugeteilt, jeder und jede sieht auf den ersten Blick, welche Pflichten zu erfüllen sind. Und schliesslich kann die Familie, die seit 20 Jahren in Thalwil lebt, auf ein gut funktionierendes privates Netzwerk zählen.

Die Kinder verabschieden sich von den Eltern. Das Schulhaus Oelwiese befindet sich gleich auf der anderen Strassenseite. Alexander Gabriel zieht sich ins Arbeitszimmer zurück. Er hat wie seine Frau Umweltnaturwissenschaften studiert, arbeitet aber als freiberuflicher Softwareentwickler. Barbara Gabriel fährt mit dem öffentlichen Verkehr zum Zoo Zürich auf die Allmend Fluntern. Dort ist sie zurzeit als Zoo-Führerin angestellt. An diesem Morgen wird sie Schülerinnen und Schüler aus Oberrieden, die Deutsch als Zweitsprache lernen, durch den Elefantenpark führen. Die Fahrt im Zug und Tram nutzt sie oft, um Texte für das Studium zu lesen. Heute wirft sie einen letzten Blick in die Unterlagen für die bevorstehende Führung im Zoo.

«Was, du willst noch Lehrerin werden?»

Der berufliche Werdegang von Barbara Gabriel verlief kurvenreich, die Konstante bildete dabei immer die Faszination für Natur und Umwelt. Im Anschluss an das Erststudium hat sie den didaktischen Ausweis für das höhere Lehramt in Biologie und Umweltlehre erworben. Im Teilzeitpensum unterrichtete sie danach an der Evangelischen Mittelschule Schiers Biologie und Chemie. «Es waren strenge, aber sehr lehrreiche Jahre», blickt sie zurück. Sie hätte sich auch vorstellen können, im Lehrberuf zu bleiben, entschied sich aber für eine andere Richtung. Beim Amt für Umweltschutz im Kanton Schwyz arbeitete sie zehn Jahre im Gewässerschutz und anschliessend sechs Jahre in einem Büro für Umweltplanung und Landschaftsarchitektur in Zürich-Oerlikon. Dort betreute sie unter anderem Naturschutzgebiete und befasste sich mit invasiven Neophyten, nichtheimischen Pflanzen, die sich aggressiv vermehren. Während der Zeit im Amt für Umweltschutz kam Ladina auf die Welt. Mit der Geburt waren auch Gedanken und Fragen verbunden, wie sie die nächsten Berufsjahre gestalten will: «Eine andere Arbeit? Ein zweites Kind? Eine neue Ausbildung?» Zunächst trat sie die neue Stelle im Zoo Zürich an und fast zur selben Zeit gebar sie auch Madlaina. Zwei von drei Zukunftsideen hatten sich zu diesem Zeitpunkt damit schon erfüllt.

Ob sie den Quereinstieg an der PH Zürich beginnen soll, hat sich Barbara Gabriel zwei Jahre lang überlegt: Sie sprach mit ehemaligen Studierenden, die sie zu dem Schritt ermuntert hatten. Und sie war bei einer Laufbahnberaterin, die ihr abgeraten und stattdessen empfohlen hat, selbständig Naturerlebnisse für verschiedene Anspruchsgruppen anzubieten. Auch die ältere Tochter war keine Ermutigung: «Was Mami», habe sie ausgerufen, «du willst noch Lehrerin werden? Du bist doch viel zu alt!» Schliesslich musste auch der finanzielle Aspekt einbezogen werden. Sie hätte vom Ersparten zehren müssen. Gabriel wusste, dass sie nicht selbständig arbeiten möchte. Aber sie wollte wieder aktiver unter Menschen sein, weniger Umweltberichte im Büro schreiben. Sie entschied sich für das Studium. Ein Aspekt war dabei zentral: der Wunsch, Kinder und Jugendliche für die Natur und den vielfältigen Lebensraum zu begeistern und zu sensibilisieren. Eine Stelle als Mittelschullehrerin in ihrem Fach zu finden schien ihr nach dem langen Unterbruch eher schwierig.

Am Nachmittag bleibt Zeit zum Lernen

Im Zoo Zürich ist an diesem Morgen schon viel Betrieb. An der Kasse und im Innenhof sammeln sich Schulklassen, Familien und Touristen. Die Schülerinnen und Schüler aus Oberrieden hören den Erzählungen von Barbara Gabriel zu und lassen sich von ihrem Engagement begeistern. Von allen Seiten kommen Fragen. «Was machen Elefanten, wenn sie schwitzen?», fragt eine Schülerin. Anschaulich erklärt Gabriel, dass Elefanten keine Schweissdrüsen besitzen und eigentlich nicht schwitzen können. Sie wedeln mit den grossen Ohren, in denen viele Blutgefässe sind, und kühlen so das Blut in ihrem Kreislauf ab. «Es ist wunderbar, wie sich die Kinder engagiert haben», freut sich Gabriel am Ende des Rundgangs. Zooführungen möchte sie auch während des Studiums möglichst lange weitermachen. Ob das zeitlich möglich ist, wird sich zeigen. «In dieser Arbeit steckt viel Herzblut», sagt sie und verabschiedet sich von der Klasse. Am Nachmittag hat sie keine festen Termine. Zeit, um Texte für das Studium zu lesen und «vor allem Pendenzen abzutragen.»

Drei Tage später an der PH Zürich. Das erste Semester ist bereits zu Ende. Jetzt besucht Barbara Gabriel im Zwischensemester verschiedene Module. Hier im Studium kommt sie in eine Welt, in der sie zwanzig Jahre lang nicht mehr war. Die Umstellung vom Berufsalltag in die Schulbank, sagt Gabriel, sei auch ein Lernprozess. Ruhig sitzen, sich konzentrieren, nicht produzieren, sondern zuhören, sich Dinge merken, bewusst auswendig lernen, einen Test schreiben und mit der Prüfungsnervosität umgehen, all dies war wieder neu. «Ich habe seit Jahrzehnten keine Prüfung mehr geschrieben.» Jetzt stellt sie fest, dass ihr die Umstellung und der Start in die Ausbildung gut gelungen sind. Nach fünf Tagen Einführung absolvierte sie ein dreiwöchiges Praktikum in der 1. Primarklasse Zürich-Witikon. Die Kinder seien lieb gewesen. «Ich habe mich so wohl gefühlt, als hätte ich schon immer unterrichtet und keine Pause von 16 Jahren gemacht.»

Mehr als eine Skitour pro Saison

Heute Morgen beginnt das dreitägige Modul «Beobachten – Beurteilen – Fördern». Es geht darum, die Perspektive für pädagogisch kluges Beurteilungshandeln in der Schule zu erweitern. Was sind gute Zeugnisse? Was müssen Zeugnisse leisten? Diese Fragen sollen erörtert werden. Zu Beginn fragt Dozent Christoph Schmid von den Teilnehmenden die Erwartungen zum Inhalt des Moduls ab. Barbara Gabriel wünscht vor allem praxisnahe Beispiele. Andere möchten auch theoretische Hintergründe. In der anschliessenden Gruppenarbeit diskutiert die Klasse angeregt die verschiedenen Aspekte einer «gerechten Note». Etliche haben Schulerfahrung und bringen praktische Beispiele in die Diskussion. Gabriel schätzt neben den inhaltlichen Anregungen und Auseinandersetzungen auch den sozialen Aspekt des Studiums. «Es ist schön, neue Leute kennenzulernen und neue Inputs zu bekommen.» Einige seien in einer ähnlichen Situation wie sie. Mit ihnen würde sie auch über familiäre Dinge reden. Spannend sei aber auch, über die unterschiedlichen Wertvorstellungen zu diskutieren. Für die Freizeit muss sie die Balance noch finden. Sie ist Präsidentin im Naturschutzverein Thalwil, geht biken, klettern und bewegt sich auch sonst gerne in der Natur.

Im letzten Winter hat es nur für eine Skitour auf den Fahnenstock bei Elm gereicht. «Ich habe gemerkt, dass ich aus Zeitgründen nicht mehr alles machen kann.» Gerne würde sie auch öfters ins Kino gehen. Aber Freunde treffen, darauf möchte sie nicht verzichten. Und ein paar Skitouren mehr sollten im nächsten Winter auch möglich sein.